Literatur und Kunst

11.09.2023: Die Santiago Boys waren eine Gruppe von Ingenieuren, die eine kybernetische Revolution in Chile erfanden. Die Fabriken des Andenstaates sollen vernetzt und von einem zentralen Rechner gesteuert werden um die chilenische Volkswirtschaft effektiver und orientiert an den Bedürfnissen der Bevölkerung zu gestalten. Dieses bisher wenig bekannte Projekt ist Gegenstand des 2015 erschienen Romans Gegen die Zeit von Sascha Reh.

 

Die Santiago Boys waren eine Gruppe von Ingenieuren, die in Chile, einem südamerikanischen Land in Randlage, eine kybernetische Revolution erfanden und eine technologische Netzpolitik umsetzten, als das Internet nicht mehr als ein kleines amerikanisches Universitätsprojekt war. Sie gehörten der Partei MAPU (Movimiento de Acción Popular Unitaria) an, die Allende unterstützte. Einer von ihnen war der junge Fernando Flores. Er wurde zum technischen Generaldirektor der CORFO (Corporaciòn de Fomento de la Producción) ernannt, einer Institution, die alle verstaatlichten chilenischen Unternehmen verwaltete. Für deren Verwaltung war es notwendig, ein neues Managementsystem als Alternative zum privaten System zu organisieren. Flores war ein Bewunderer von Stafford Beer, einem englischen Unternehmensberater, der ein kybernetisches Verwaltungssystem für Unternehmen und Staaten vorschlug. Beer reagierte enthusiastisch auf seine Bitte um Hilfe.

Anfang der siebziger Jahre herrscht Aufbruchstimmung in Chile. Der sozialistische Präsident Salvador Allende ist entschlossen, das Land aus seiner wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit von den US-Konzernen zu führen. Die Nationalisierung der Kupfergruben, der Banken und wichtiger Unternehmen des Außenhandels waren dabei Schlüsselprojekte. Parallel dazu war die Politik der Unidad Popular darauf gerichtet, für mehr und besser bezahlte Arbeit zu sorgen, die Einkommen der Arbeiter, Angestellten und Bauern spürbar zu erhöhen, die industriellen Kapazitäten des Landes voll auszuschöpfen.

Um letzteres zu erreichen, setzt Allende auf ein kühnes Projekt: Die Fabriken des Andenstaates sollen vernetzt und von einem zentralen Rechner gesteuert werden um die chilenische Volkswirtschaft effektiver und orientiert an den Bedürfnissen der Bevölkerung zu gestalten.

Dieses bisher wenig bekannte Projekt ist Gegenstand des 2015 erschienen Romans Gegen die Zeit von Sascha Reh. Auch acht Jahre nach Erscheinen lohnt das Lesen dieses Buches – ist es doch eines der wenigen Bücher, die spannend mit den Mitteln von Fakten und Fiktion die Ereignisse in Chile bis zum Putsch zum Gegenstand haben.

Der Roman beginnt mit Dienstag, dem 11. September 1973. Gerade haben die Militärs im Auftrag von General Pinochet gegen die Regierung Allende geputscht und den Regierungspalast Moneda bombardiert. Hans Everding hat in wilder Flucht einen Koffer mit wichtigen Unterlagen des Projekts SYNCO versteckt; Skizzen, Blaupausen, ein paar Diapositive und Magnetbänder, denn "unter keinen Umständen durfte etwas davon den Faschisten in die Hände fallen." Seine Sorge ist berechtigt, denn kurz darauf werden er und weitere Mitglieder des Teams verhaftet und die Pinochet-Büttel lassen nichts unversucht, an die SYNCO-Dokumente und weitere Personen des Teams heranzukommen.

Das Projekt SYNCO

In Rückblicken schildert Hans Everding - der Ich-Erzähler des Romans - wie er zu dem Projekt gestoßen ist und wie er die Arbeit daran in den turbulenten, von erbittertem Klassenkampf geprägten Jahren, erlebt hat.

Ein internationales Team, unter ihnen der junge deutsche Hans Everding, wird beauftragt, das Datennetzwerk mit aufzubauen und in die Praxis umzusetzen. "Dieser Roman basiert, wie man so sagt, auf wahren Begebenheiten. Dieser Roman ist das, was ein Erzähler aus den bruchstückhaften Überlieferungen historischer Ereignisse gemacht hat", schreibt der Autor Sascha Reh in seinem Nachwort. Für seinen Roman hat er ehemalige Akteure des Projektes SYNCO – so die Bezeichnung des Datennetzwerkes - aufgesucht und sich von ihnen erzählen lassen, wie sie von 1971 bis 1973 unter Anleitung des britischen Mitbegründers der Managementkybernetik, Stafford Beer (1926-2002), versucht haben, die chilenische Volkswirtschaft durch computergestützte Systeme zu steuern.

Er, durch die Studentenproteste Ende der 60er Jahre in Frankfurt politisiert, wird aber schnell enttäuscht und desillusioniert. "Adorno war tot, Krahl und Dutschke zumindest außer Gefecht; die deutsche Linke wohnte ihrer Zersplitterung als ihr eigenes johlendes Publikum bei. All den Grabenkämpfen war schmerzlich die Sinnlosigkeit eingeschrieben, die Lebensbedingungen von Menschen verbessern zu wollen, denen sie längst gut genug waren."

Begeistert ergreift er daher die Chance, an der chilenischen Revolution mitzuwirken und für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Er, der Industrie-Design studiert hat, geht im Auftrag des chilenischen Verbandes für Wirtschaftsförderung in den Andenstaat, um Studenten zu unterrichten, Konstruktionspläne für Landmaschinen sowie Produkte des täglichen Bedarfs zu entwerfen, "um den alltäglichen Mangel zu lindern".

Eher zufällig gerät er dann in das SYNCO-Team, das mit seinem Cybernet-Projekt folgendes Programm verfolgt: "Wir lassen Chiles Wirtschaft vom Computer simulieren und spielen auf diese Weise verschiedene Szenarien durch. Zum Beispiel setzen wir die gesamte Warenmenge eines einzigen Tages in Beziehung zur Inflation, zur momentanen Kaufkraft der Bevölkerung, damit zum erwarteten Absatz, zum Aktienmarkt und so weiter. Die Parameter sind völlig variabel. Auf diese Weise können wir den Produktionsbedarf vorhersagen und Engpässe verhindern, bevor sie entstehen. Unser System wird nicht nur alles wissen, was in chilenischen Fabriken in einem bestimmten Moment passiert, sondern auch, was geschehen könnte."

Cybernet, das die "Flugbahnen der chilenischen Wirtschaft" errechnen möchte - und zwar in Echtzeit, nicht anhand von Statistiken, die ein Jahr alt sind. Das SYNCO-Team sieht darin die Chance, ein besseres Verteilungssystem einzuführen als es der Kapitalismus mit seinem zu Ungleichheit führenden freien Markt praktiziert.

Dass der Autor Sascha Reh die erfundenen Figuren im Rahmen wahrer Begebenheiten und Zusammenhänge agieren lässt, verleiht dem Roman eine große Authentizität. Es ist diese Mischung zwischen Dichtung und Wahrheit, die die Handlung so ungemein spannend macht.

Um die Entwicklung des Projektes, die unterschiedlichen Meinungen im Team darstellen zu können, lässt der Autor seinen Ich-Erzähler an vielen Diskussionen teilnehmen, in denen unterschiedliche Sichtweisen und Beurteilungen des revolutionären Prozesses in Chile deutlich werden. Als Beispiel seien Emilio und seine Freundin Ana genannt, denen die Reformen Allendes nicht weit und nicht schnell genug gehen.

Die Arbeit des SYNCO-Teams vollzieht sich vor dem Hintergrund der sich verschärfenden politischen Kämpfe. Die konterrevolutionären Kräfte um den späteren Diktator General Pinochet werden immer stärker. Offen unterstützt werden sie vom US-Geheimdienst CIA. Als im Oktober 1972 über zehntausend LKW-Besitzer und Fahrer in den Ausstand treten, droht das Land im Chaos zu versinken, die Macht der Unidad Popular ist bedroht. In dieser Situation hat das Cybernet-Projekt seine erste große Bewährungsprobe: 200 Fabriken sind über den Computer miteinander vernetzt und Cybernet wird zu einer landesweiten Tauschbörse für technische Hilfe und Nachschub, um die ärgsten Versorgungsengpässe zu lindern. Entscheidend bleiben aber trotz aller Vernetzung die klassenbewussten Arbeiter in Betrieben:

"Ich fand die Prinzipientreue der Arbeiter beeindruckend. Viele der streikenden Unternehmer hatten ihnen sogar Geld dafür geboten, zu Hause zu bleiben, aber sie kamen trotzdem. Sie gingen in dem politischen Bewusstsein zurück an ihre Arbeitsplätze, dass dies die historische Situation war, sich de facto die Produktionsmittel anzueignen."

Allende übersteht zwar den Streik, letztlich gewinnt die Reaktion aber die Oberhand: Am 11. September 1973 putscht General Pinochet und es schlägt die Geburtsstunde für ein wirtschaftspolitisches Projekt ganz anderer Art: das der neoliberalen Schocktherapie, erdacht und in Chile in die Praxis umgesetzt von den Chicago Boys um Milton Friedman.

"Ende Oktober erschien ein großer Artikel im "Mercurio", der mit GEHEIMPLAN CYBERNET überschrieben war. In reißerischen Dreiwortsätzen wurde unser Projekt darin als 'Kommunistenmaschine' bezeichnet, die die Staatskontrolle übernehmen und die gesamte Gesellschaft unterjochen wolle."

Zurück zum Roman: Bleibt noch die Frage: Kann Hans die Unterlagen des SYNCO-Projekts vor dem Zugriff der Faschisten retten und wie gelingt ihm die Flucht vor den Pinochet-Häschern?

txt: Günther Stamer

Buch Gegen die Zeit

 

 

Sascha Reh:
Gegen die Zeit. Roman.
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015,
360 S., geb., 21,95 €
hier bestellen: https://www.schoeffling.de/buecher/sascha-reh/gegen-die-zeit

 

 


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