11.12.2020: Anderthalb Jahre nach dem Bundestagsbeschluss "BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen" formiert sich nun scharfe Kritik an dessen "Anwendung". Vertreter*innen großer Kunst- und Wissenschaftseinrichtungen kritisieren die BDS-Resolution des Bundestages und stoßen sich vor allem an den "missbräuchlichen Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs".
"Initiative GG 5.3. Weltoffenheit" nennt sich die Initiative - ein Verweis auf den Grundgesetzartikel, den es für die Initiator*innen unbedingt zu verteidigen gilt: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei." - mit der Vertreter*innen wichtiger Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen an die Öffentlichkeit gehen.
Führungskräfte des Goethe-Instituts, der Kulturstiftung des Bundes, der Bundeszentrale für Politische Bildung, des Humboldt-Forums, des Zentrums für Antisemitismusforschung, der Berliner Festspiele, des deutschen Bühnenvereins, des Hauses der Kulturen der Welt, des Bündnis internationaler Produktionshäuser, der Münchner Kammerspiele und viele weitere kritisieren mit dem Plädoyer der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" die BDS-Resolution des Bundestages. Sie stoßen sich vor allem an den "missbräuchlichen Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs". So wird in ihrem Plädoyer ausdrücklich nicht der BDS-Beschluss selbst kritisiert, sondern ganz grundsätzlich dessen "Anwendung": Es sei eine "Logik des Boykotts" entstanden, die "gefährlich" sei.
BDS-Kampagnen richten sich vor allem gegen die israelische Politik der Kolonisierung, Apartheid und Besatzung. Sie umfassen Aktionen gegen die wirtschaftliche, militärische, wissenschaftliche, kulturelle und sonstige gesellschaftliche Zusammenarbeit des Auslands mit Israel. |
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Am 17. Mai 2019 beschloss der Bundestag einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel "BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen". Laut Bundestagsbeschluss soll die Bundesregierung "keine Veranstaltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppierungen, die deren Ziele aktiv verfolgen" mehr unterstützen. Projekte, die zum Boykott Israels aufrufen oder die BDS-Bewegung aktiv unterstützen, sollen ebenfalls nicht länger finanziell gefördert werden. Behauptet wird, dass die Bewegung das Existenzrecht Israels in Frage stelle; eine Behauptung, die von der BDS-Kampagne zurückgewiesen wird. |
Auf einer Veranstaltung der Initiative im Deutschen Theater in Berlin am Donnerstag (10.12.) kritisierten sie, dass die BDS-Resolution des Bundestages Unsicherheit und Grauzonen geschaffen habe und Mechanismen der Selbstzensur nach sich ziehe. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, sprach von einer "schwarzen Liste", die sich ob der so geförderten Grauzonen in seinem Hinterkopf festgesetzt habe.
"In unserer Institution gibt es eine Reihe von Mitarbeitern, die Förderanträge zu begutachten haben und die natürlich in der Reaktion auf diesen Beschluss dazu neigen, vorauseilend Gesinnungsprüfungen stattfinden zu lassen. Das ist kontraproduktiv für politische Bildung, so wie ich Sie Ihnen hier skizziert habe."
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung
Dürfte heute jemand wie der südafrikanische Bischof und legendäre Anti-Apartheid-Kämpfer Desmond Tutu nach Berlin eingeladen werden, dem in gewisser Weise sicherlich Sympathien zum BDS nachgesagt werden können?
Die israelische Künstlerin Yehudit Yinhar, vor zehn Jahren nach Berlin gezogen, in die Stadt, aus der ihre Großmutter am 8. November 1938 geflohen war, organisierte mit israelischen Freund*innen im Oktober an der Kunsthochschule Weißensee, wo sie studiert, die Reihe "School for Unlearning Zionism". Das Ergebnis langen, gemeinsamen Nachdenkens über ihr Herkunftsland. Doch nur Tage nach der Eröffnung intervenierte eine konservative israelische Zeitung, auf Twitter brach ein Shitstorm los, Volker Beck von den Grünen nannte die Veranstaltung eine "propagandistische Ungeheuerlichkeit", die staatlich geförderte Amadeu-Antonio-Stiftung erklärte sie für "antisemitisch". Und statt Yinhar zu verteidigen, distanzierte sich die Rektorin der Hochschule. "Den Antisemitismusvorwurf", sagt die 35-jährige Jüdin, "muss ich jetzt alleine tragen."
Es ist der jüngste in einer langen Reihe von Fällen, bei denen israelkritische Haltungen so heftige Reaktionen auslösen, dass Veranstaltungen abgesagt, Eingeladene ausgeladen werden und der Ruf von Künstlern, Institutionen und deren Leiter*innen in Gefahr gerät. Während Lisa Eckhart mit ihren antisemitischen Witzen im deutschen Fernsehen weiterhin willkommen ist, stehen Künstler*innen und Intellektuelle aus dem globalen Süden wie der aus Kamerun stammenden Philosoph Achille Mbembe im Abseits. Er lehrte in Deutschland, erhielt etliche Preise. Bis er im vergangenen Sommer des Antisemitismus bezichtigt wurde. Der in Südafrika lehrende Philosoph, Träger des Geschwister-Scholl-Preises, sollte den Eröffnungsvortrag der Ruhrtriennale halten. Dann aber stieß ein FDP-Abgeordneter auf israelkritische Passagen in Mbembes Texten und auf ein von ihm geschriebenes Vorwort für den Band "Apartheid Israel". Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, forderte Mbembes Ausladung. Daraufhin brach eine Lawine los mit dem Ziel der Ausladung Mbembes - bis die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Ruhrtriennale schließlich mit Hinweis auf die Pandemie absagte.
Susan Neiman, us-amerikanische Jüdin und Leiterin des Einstein Forums, ist besorgt, dass mit dem BDS-Beschluss des Bundestags drohe, dass "die deutsche Vergangenheit den Blick auf die israelische Gegenwart" verstellt. "Deutsche Israel-Diskussionen sollen endlich die Vielfalt jüdischer Diskussionen und Kritik reflektieren, nicht nur die Meinungen konservativer deutsch-jüdischer Organisationen", äußerte sie am Donnerstag im Deutschen Theater in Berlin.
Sie trug vor, was Albert Einstein und Hannah Arendt öffentlich über Israel sagten. Und stellt fest: Nach der Logik des BDS-Beschlusses und nach derzeitiger Lage "dürften deutsche Institutionen weder Einstein noch Arendt zu einem Vortrag einladen" - hatte doch Letzterer etwa das 1948 von zionistischen Kämpfern im palästinensischen Dorf Deir Yasin verübte Massaker "faschistisch" genannt.
Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, sieht durch das faktische Verbot, global mit BDS-Anhänger*innen kooperieren zu dürfen, die Grundlage der Arbeit des Instituts bedroht. Das Institut öffne im Sinne "kultureller Realpolitik" Gesprächskanäle auch und gerade zu missliebigen Auffassung. Ebert fordert daher eine Überprüfung des Bundestagsbeschlusses.
Hartmut Dorferloh, Chef des Humboldt Forums, betonte, dass seine Arbeit global offen und ohne Selbstzensur stattfinden müsse und brachte das Interesse der Institutionen praktisch auf den Punkt: "Wir wissen nicht, wen wir noch einladen dürfen." Wer darf eingeladen werden, wer nicht? Und sollen die Häuser bei jedem recherchieren, was er irgendwann unterschrieben hat?, fragt sich Amelie Deuflhard von Kampnagel. "Wir sind nicht die Polizei."
In ihrem am Donnerstag veröffentlichten Plädoyer schreiben sie: "Die Anwendung der BDS-Resolution des Bundestags bereitet uns große Sorge." Man lehne "den Boykott Israels durch den BDS ab", halte aber "die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestags ausgelöst hat, für gefährlich". Zudem warnen die Unterzeichner*innen vor der "missbräuchlichen Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs".
"Der gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und jede Form von gewaltbereitem religiösen Fundamentalismus steht im Zentrum unserer Initiative", stellen sie in ihrem Plädoyer klar. Doch die "historische Verantwortung Deutschlands" dürfe nicht dazu führen, "andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren". Genau das geschehe durch die Resolution des Bundestags.
Und sie kritisieren, dass die demokratische Öffentlichkeit leide, "wenn wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen, wie im Falle der Debatte um Achille Mbembe zu beobachten war".
Die Initiative, die sich nach dem Grundgesetzartikel zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit benannt hat, will die öffentliche Auseinandersetzung suchen, weitere Veranstaltungen sollen folgen.
Dokumentiert
Plädoyer der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«
Als Repräsentantinnen und Repräsentanten öffentlicher Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen verbindet uns der staatliche Auftrag, Kunst und Kultur, historische Forschung und demokratische Bildung zu fördern und der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Dafür sind wir auf eine Öffentlichkeit angewiesen, die auf der normativen Basis der grundgesetzlichen Ordnung streitbare und kontroverse Debatten ermöglicht. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt dabei auch marginalisierten und ausgeblendeten Stimmen, die für kulturelle Vielfalt und kritische Perspektiven stehen. Der gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und jede Form von gewaltbereitem religiösen Fundamentalismus steht im Zentrum unserer Initiative.
Eine spezifische Herausforderung besteht für uns heute darin, die Besonderheiten der deutschen Vergangenheit unseren Kooperationspartner:innen in der ganzen Welt verantwortungsvoll zu vermitteln, um eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft zu entwerfen. Eine Vergangenheit, die einerseits geprägt ist durch den beispiellosen Völkermord an den europäischen Juden und Jüdinnen und andererseits durch eine späte und relativ zögerliche Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte. Dazu bedarf es eines aktiven Engagements für die Vielfalt jüdischer Positionen und der Öffnung für andere, aus der nichteuropäischen Welt vorgetragene gesellschaftliche Visionen.
Es ist unproduktiv und für eine demokratische Öffentlichkeit abträglich, wenn wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen, wie im Falle der Debatte um Achille Mbembe zu beobachten war. Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren. Konfrontation und Auseinandersetzung damit müssen gerade in öffentlich geförderten Kultur- und Diskursräumen möglich sein. Vor diesem Hintergrund bereitet uns auch die Anwendung der BDS-Resolution des Bundestages große Sorge. Da wir den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch für grundlegend halten, lehnen wir den Boykott Israels durch den BDS ab. Gleichzeitig halten wir auch die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestages ausgelöst hat, für gefährlich. Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt.
Aus diesem Grund haben wir uns zu der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« zusammengefunden, in der wir unsere Kompetenzen und Kräfte bündeln, um uns für die Verteidigung eines Klimas der Vielstimmigkeit, der kritischen Reflexion und der Anerkennung von Differenz einzusetzen. Mit dem Namen verweisen wir auf Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes, in dem die Freiheit von Kunst und Wissenschaft garantiert wird. Weltoffenheit, wie wir sie verstehen, setzt eine politische Ästhetik der Differenz voraus, die Anderssein als demokratische Qualität versteht und Kunst und Bildung als Räume, in denen es darum geht, Ambivalenzen zu ertragen und abweichende Positionen zuzulassen. Dazu gehört es auch, einer Vielstimmigkeit Freiräume zu garantieren, die die eigene privilegierte Position als implizite Norm kritisch zur Disposition stellt.
Wir verteidigen die weltoffene Gesellschaft, die für die Gleichwertigkeit aller Menschen mit den Mitteln des Rechtsstaats und öffentlichen Diskurses streitet sowie Dissens und vielschichtige Solidaritäten zulässt. Dies ist die Grundlage, welche es den Künsten und Wissenschaften erlaubt, ihre ureigene Funktion weiterhin auszuüben: die der kritischen Reflexion der gesellschaftlichen Ordnungen und der Öffnung für alternative Weltentwürfe.
Arbeitskreis
• Berliner Festspiele, Thomas Oberender (Intendant)
• Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Silvia Fehrmann (Leiterin)
• Bündnis Internationaler Produktionshäuser:
• FFT Düsseldorf (Forum Freies Theater ), Kathrin Tiedemann (Künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin)
• HAU Hebbel am Ufer / Berlin, Annemie Vanackere (Intendantin)
• HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste / Dresden, Carena Schlewitt (Intendantin)
• Kampnagel / Hamburg, Amelie Deuflhard (Intendantin)
• Künstlerhaus Mousonturm / Frankfurt am Main, Matthias Pees (Intendant)
• PACT Zollverein / Essen, Stefan Hilterhaus (Intendant)
• tanzhaus nrw / Düsseldorf, Bettina Masuch (Intendantin)
• Deutsches Theater Berlin, Ulrich Khuon (Intendant)
• Einstein Forum Potsdam, Susan Neiman (Direktorin)
• Goethe-Institut, Johannes Ebert (Generalsekretär)
• Haus der Kulturen der Welt, Bernd Scherer (Intendant)
• Jüdisches Museum Hohenems, Hanno Loewy (Direktor)
• Kulturstiftung des Bundes, Hortensia Völckers (Künstlerische Direktorin)
• Moses Mendelssohn Zentrum für Europäisch-Jüdische Studien, Miriam Rürup (Direktorin)
• Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK), Barbara Plankensteiner (Direktorin)
• Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, Hartmut Dorgerloh (Generalintendant)
• Wissenschaftskolleg zu Berlin, Barbara Stollberg-Rilinger (Rektorin)
• Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin, Stefanie Schüler-Springorum (Leiterin)
Weitere Unterzeichner*innen des Plädoyers
• Deutscher Bühnenverein, Carsten Brosda (Präsident)
• DOK Leipzig, Christoph Terhechte (Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer)
• Düsseldorfer Schauspielhaus, Wilfried Schulz (Generalintendant u. Festivalintendant Theater der Welt 2021)
• Forum Transregionale Studien, Andreas Eckert (Vorstandsvorsitzender)
• Münchner Kammerspiele, Barbara Mundel (Intendantin)
• Nationaltheater Mannheim, Christian Holtzhauer (Schauspielintendant)
• Schauspiel Köln, Stefan Bachmann (Intendant)
• Staatsschauspiel Dresden, Joachim Klement (Intendant)
• Theater Krefeld-Mönchengladbach, Michael Grosse (Generalintendant)
• Thalia Theater, Joachim Lux (Intendant Thalia Theater u. Präsident des Deutschen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts (ITI))
• Völkerkunde Museen in Leipzig, Dresden und Herrnhut, Léontine Meijer-van Mensch (Leiterin)
• Württembergischer Kunstverein, Hans D. Christ und Iris Dressler (Direktoren)
Der Arbeitskreis dankt für fachlichen Rat und Diskussionsbeiträge:
• Aleida Assmann (Professorin em. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft)
• Stephan Detjen (Journalist)
• Emily Dische-Becker (Journalistin)
• Anselm Franke (Kurator)
• Andreas Görgen
• Wolf Iro (Kulturmanager und Autor)
• Wolfgang Kaleck
• Christoph Möllers (Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie)
• Michael Wildt (Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus)
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