Linke / Wahlen in Europa

Norwegen Storting05.10.2021: Holger Pötzsch (Tromsø) zur Situation nach der Wahl und zur Regierungsbildung.

 

 

Die Parlamentswahl am 13. September 2021 wird zu einem Regierungswechsel im Ölland Norwegen führen. Die bisherige konservative Regierung unter Erna Solberg verlor ihre Mehrheit. Alle bürgerlichen Parteien büßten Stimmen ein und müssen jetzt sich auf eine Legislaturperiode in der Opposition vorbereiten. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums verzeichneten vor allem die norwegische Linkspartei Rødt starke Gewinne und wird nun zum ersten Mal in Fraktionsstärke im Storting vertreten sein. Neben Rødt war die zentristische Senterparti (SP) die großer Wahlgewinnerin, auch wenn der Zuwachs bei weitem nicht so deutlich ausfiel, wie von Umfragen vor der Wahl prognostiziert. So weit ist die Situation in Norwegen den Leser*innen von kommunisten.de bereits bekannt. (siehe: Norwegen wendet sich nach links. Wird jetzt der Ausstieg aus dem Öl eingeleitet?)

Doch wie geht es jetzt weiter im Land an der nördlichen Grenze Europas?

Die sozialdemokratische Arbeiterpartei Norwegens (AP) hat zwar leichte Verluste hinnehmen müssen, ist aber weiterhin stärkste Kraft im norwegischen Parlament. Damit obliegt es ihr, den ersten Versuch zu machen, eine Regierung zu bilden. Geführt wird die AP heute von Jonas Gahr Støre, der schon während der letzten rot-grünen Regierungsperiode von 2005-2013 unter dem heutigen NATO Generalsekretär Jens Stoltenberg Regierungsmitglied war und unter anderem den Außenminister gestellt hatte. Gahr Støre hatte bereits im Wahlkampf klargestellt, dass er gerne zusammen mit der Senterparti (SP) und der links-grünen Sozialistischen Linkspartei (SV) eine Wiederauflage der Koalition von 2005 - 2013 versuchen wollte.

Auch die Sozialistischen Linkspartei SV unter Audun Lysbakken hatte bereits im Wahlkampf klargestellt für eine solche Wiederauflage einzutreten – allerdings unter klaren Bedingungen. Denn: Die vorige Regierungsperiode hatte für SV beinahe den Untergang bedeutet und die Partei hatte zum Schluss so viele 'Kröten schlucken’ müssen, dass sie für ihre Wähler*innen beinah unkenntlich wurde. In der Wahl 2013 hatte sie sich daher gefährlich der 4 Prozent Hürde genähert. Als die SV 2005 zum ersten Mal an einer Regierung beteiligt wurde, hatte die Partei zunächst einiges erreicht. Am vielleicht wichtigsten war das gehaltene Versprechen, ein Recht auf eine bezahlbaren Kindergartenplatz ab dem 10. Lebensmonat für alle sicher zu stellen. Die zweite Legislaturperiode wurde dann jedoch von politischen Entscheidungen überschattet, die zeigten, dass SV von den erfahreneren rechten ′Partnern’ der AP in wichtigen Fragen über den Tisch gezogen wurden. Als wichtigste Beispiele wären folgende zu nennen: 1) der nicht nur aus ökonomischen Gründen überaus fragwürdige Ankauf amerikanischer Kampfflugzeuge vom Typ F-35 – der größten militärischen Investition in der Geschichte Norwegens, 2) die Bombardierung und Zerstörung Libyens ohne Mandat der Vereinten Nationen und ohne Konsultation des Storting und 3) die massive Einführung von Prinzipien aus dem New Public Management in öffentlicher Verwaltung, Schulen, Universitäten sowie Krankenhäusern und Pflegeheimen.
SV und Audun Lysbakken tun gut daran, ähnliche Fehler 2021 zu vermeiden.

Nun zu der aus einem deutschen Kontext am schwierigsten einzuordnenden Partei – der Senterparti (SP). Die Zentristen sind aus der norwegischen Bauernpartei hervorgegangen und mussten lange dem bürgerlichen Lager zugeordnet werden. Sie stellte Ende 1990er und Anfang der 2000er Jahre eine Regierung zusammen mit den Christdemokraten (KrF; in Norwegen eine Partei, die von der größeren konservativen Høyre unabhängig ist) und den Liberalen von Venstre. Mit Jens Stoltenberg wendete die Partei sich dann ab 2005 nach ′links’ und wurde Teil einer rot-grünen Regierung mit SV und AP und ab 2013 einer rot-grünen Opposition.

Auf den Fahnen der SP stehen traditionell der Schutz norwegischer Landwirte (sowohl Kleinbauern im Norden und Westen als auch Großbauern im Süden), die Unterstützung der ′Distrikte’ (oft strukturschwache Regionen im geografisch gesehen riesigen Norwegen), sowie der Schutz norwegischer Souveränität. Vor allem in den Volksentscheiden über eine EU-Mitgliedschaft Norwegens hat sich SP, neben den Vorläufern von Rødt, seit den 70er Jahren als eine der klarsten Stimmen gegen einen Beitritt Norwegens profiliert.

Unter Parteichef Trygve Slagsvold Vedum hatte SP im Wahlkampf 2021 deutlich gemacht, dass sie sie für eine Koalition mit AP und ohne SV eintreten. Der Grund sind Differenzen zwischen Sozialistischer Linkspartei SV und SP auf Gebieten, wie Ölförderung, Straßenbau, Mautgebühren, CO2-Abgaben und Fahrverbote. SP schaffte es, sich als Anwalt einfacher Norweger*innen darzustellen. Die Partei versprach Industriearbeitsplätze in der Ölindustrie zu sichern, in Distrikten weiter mautfreie Straßen zu bauen und keine neuen CO2-Abgaben und städtische Fahrverbote einzuführen. Das Bild vom superreichen Teslafahrer, der in Oslo noch immer im zentrumsnahen Kindergarten vorfahren könnte, während die alleinerziehende Mutter ihren alten Diesel stehen lassen müsste, zeigt hier, warum SP mit diesen Themen bei großen Wählergruppen Popularität gewinnen konnte.

Rot-grüne Strateg*innen sahen daher schnell, dass SP die einzige der ′regierungsfähigen’ Parteien war, die Wähler*innen über die Mitte von rechts in das linke Lager zu holen vermochte. Hier halfen zum einen die oben genannten zugespitzten Themen, zum anderen aber auch der in einem positiven Sinne durchaus als populistisch zu bezeichnende Stil Vedums. Der wurde schnell dafür bekannt, im Wahlkampf kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er gab sich volksnah und konnte scheinbar mit dem Landwirt aus ruralen Gebieten Westnorwegens genauso natürlich reden, wie mit dem Fischer aus dem Norden oder traditionellen Arbeiter*innen aus einer Trabantenstadt vor Oslo. Damit zog er vor allem Wähler*innen an, die sich 2013 von der vorigen rot-grünen Politik enttäuscht, den Rechtspopulisten der norwegischen Fortschrittspartei (FrP) zugewendet hatten, durch deren Regierungsbeteiligung bis 2020 aber frustriert worden waren. Der Abstand zur Sozialistischen Linkspartei SV wurde dadurch jedoch größer und größer.

Oben genannte Verwerfungen führten dann Ende September 2021 zum Bruch der Sondierungen zwischen AP, SP, und SV. Die SV zog sich von den Verhandlungen zurück und nannte eine Reihe Gründe, die auch über die bereits genannten Konfliktlinien mit SP hinausweisen. Neben angeblich unüberbrückbaren Gegensätzen in Fragen einer sozialverträglichen Umweltpolitik, nannte Audun Lysbakken interessanterweise auch Steuerpolitik als einen Grund für den Bruch. V.a. Rødt hatte während des Wahlkampfes vor dem bekannten Muster gewarnt, dass AP-geführte Regierungen massive Steuersenkungen ihrer rechten Vorgänger normalerweise nicht (signifikant) zurückschrauben, sondern das niedrige Steuerniveau lediglich bis zum nächsten Regierungswechsel einfrieren. Mit dem Bruch durch SV kann sich daher durchaus auch die Wichtigkeit einer starken linken Opposition durch Rødt im Storting zeigen, die es einer Partei wie SV schwer macht, für eine Regierungsbeteiligung zu viele Kernpunkte ihrer Politik aufzugeben.

Bleibt die Frage, was eine Minderheitsregierung von AP und SP erreichen kann und will. Ein Feld, in dem Gemeinsamkeiten überwiegen ist die Distriktspolitik und die Frage von staatlicher Steuerung nach durch New Public Management inspirierte Verfahren.

Einer von SPs Hauptpunkten während des Wahlkampfes war eine Kritik an von der vorigen Regierung durchgeführten massiven Zentralisierung gewesen. Gemeinden und Bundesländer wurden gegen den erklärten Willen der Einwohner*innen zusammengelegt, eine Polizeireform entfernte kleine Polizeistationen in den Distrikten und legte diese in größeren Gemeinden zusammen, Krankenhäuser und vor allem kleine im ganzen Land verteilte und damit für alle schnell zugängliche Entbindungskliniken wurden geschlossen und/oder zusammengelegt. Effektivierung war der Hauptgrund (und die Möglichkeit öffentliche Ausgaben einem Land zu senken, das hunderte von Milliarden Euro in seinem Öl-Fond auf der hohen Kante hat). Daneben wurden immer neue und detailliertere Rapportierungsmethoden im Gesundheits- und Bildungssektor eingeführt.

AP hat erklärt eine ′Vertrauensreform’ angehen zu wollen, die Arbeitnehmer*innen, Angestellt*innen und Bürger*innen weniger Kontrolle aussetzt und sich mehr nach deren Willen ausrichtet. Gleichzeitig versprach man im Wahlkampf Teile der Zentralisierung zurücknehmen zu wollen. Dennoch wurden bereits Stimmen laut, die eine notwendige Neustrukturierung eines an privatwirtschaftlichen Modellen ausgerichteten Gesundheitssektors mit Versprechungen von etwas besseren Löhnen, ein paar extra Stellen und etwas mehr Geld abspeisen wollen. Es wird auch bereits verlautet, man könne sich gerne Mehrheiten rechts der Mitte suchen, sollte das notwendig sein.

Wie viel grundlegende Veränderung mit einer Minderheitsregierung aus AP und SP realisiert werden kann, wird daher auch von einer koordinierten und konstruktiven, jedoch auch klaren Oppositionspolitik von Sozialistischer Linkspartei SV und Rødt im Storting abhängen.

txt: Holger Pötzsch, UiT Norwegens arktische Universität, Tromsø


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