20.06.2024: Weniger als zwei Wochen. Das ist die Zeit, die die Neue Volksfront, die Koalition der französischen Linken, hat, um eine Mehrheit im Parlament zu erlangen oder zumindest zu verhindern, dass die extreme Rechte von Marine Le Pen diese erhält. Gewählt wird in zwei Runden am 30. Juni und 7. Juli.
Am Montag (17.6.) hat der Wahlkampf für die vorgezogenen Parlamentswahlen offiziell begonnen, ausgelöst durch die von Emmanuel Macron als Reaktion auf das Ergebnis der EU-Wahl verkündete Auflösung des Parlaments. Die ultrarechte Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen hatte die EU-Wahl in Frankreich mit 31,4 Prozent und 30 Sitzen (+12) klar gewonnen; Besoin d'Europe, die Liste von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Verbündeten landete wie erwartet mit 14,6 Prozent weit abgeschlagen dahinter. Die mit dem RN konkurrierende ultrarechte Partei Reconquête um Éric Zemmour und Marion Maréchal errang zusätzlich mehr als fünf Prozent der Stimmen. Die Linkskräfte traten zersplittert an und konnten nicht an ihren relativen Erfolg bei der Parlamentswahl im Juni 2022 anknüpfen. Noch am Wahlabend ordnete Macron völlig überraschend Neuwahlen an.
Francois Ruffin von La France Insoumise kommentierte die Entscheidung von Macron: "Wir haben einen Spinner an der Spitze des Staates. Das ist ein Pyromane. Macrons Partei wird sich eine zweite Klatsche einfangen. Das ist alles. Was bleibt, um den Rassemblement National zu stoppen, ist deshalb nur die Linke."
Erwartet wurde, dass sich der Vormarsch der Ultrarechten bis zur Wahl nicht mehr umkehren lassen würde. Der RN könnte dann nicht nur stärkste Fraktion in der Nationalversammlung werden, sondern sogar eine absolute Mehrheit erringen. In diesem Fall wäre Macron gezwungen, einen Premierminister oder eine Premierministerin aus den Reihen des RN mit der Regierungsbildung zu beauftragen.
"Was vor einer Woche noch unmöglich schien, wird angesichts der Gefahr, die von der extremen Rechten ausgeht, möglich."
Olivier Faure, Sekretär der Sozialistischen Partei
Doch dann geschah das Unerwartete. "Was vor einer Woche noch unmöglich schien, wird angesichts der Gefahr, die von der extremen Rechten ausgeht, möglich", sagte Olivier Faure, Sekretär der Sozialistischen Partei. Eine breite linke Wahlkoalition will den Vormarsch der extremen Rechten in Frankreich stoppen.
Einen Tag nach der EU-Wahl und der Ausrufung von Neuwahlen durch Macron erklärten sieben Linksparteien die Gründung des Bündnisses "Nouveau Front Populaire" (Neue Volksfront), das eine "Logik des Bruchs" mit der bisherigen neoliberalen und autoritären Politik verfolgen wolle und offen für weitere Kräfte sei. In schneller Folge traten dem von La France Insoumise LFI, Französischer Kommunistischer Partei PCF, Sozialistischer Partei PS und der grünen Partei Europe Ecologie-Les Verts initiiertem Bündnis weitere Gruppen bei.
"Emmanuel Macron wollte uns spalten, aber in Wirklichkeit hat er uns zusammengebracht."
Manon Aubry, die Spitzenkandidatin von France Insoumise bei den EU-Wahlen
Nachdem Macron in der Nacht zum 9. Juni die Auflösung der französischen Nationalversammlung und die Durchführung vorgezogener Neuwahlen innerhalb von 20 Tagen angekündigt hatte, gab Macron selbst eine wichtige Erklärung ab, die die wahre Strategie hinter diesem überraschenden Schritt enthüllte – nämlich die radikale Linke, insbesondere La Francise insoumise, zu isolieren und den Rest der linken Mitte in seinen Bann zu ziehen.
Macron kündigte an, dass die Renaissance keine Kandidat*innen in jenen Wahlkreisen aufstellen werde, in denen Parteien des sogenannten "republikanischen Bogens" amtieren. Damit war klar, dass er sich auf die systematische Kampagne bezog, die der Präsident und die Mehrheit der Medien geführt haben, um La France Insoumise als außerhalb der republikanischen Normen stehend zu charakterisieren.
Macrons Hoffnungen, die Linke zu spalten, wurden jedoch rasch zunichtegemacht. Am Montag zum Start des Wahlkampfs stand die Neue Volksfront in den Startlöchern, vereint in einer noch nie dagewesenen großen Koalition. Der Bogen spannt sich von den Ex-Macronisten und rechten Sozialisten wie François Hollande über die Trotzkisten der Nouveau Parti Anticapitaliste NPA bis hin zu den Grünen, den Kommunisten der PCF und La France Insoumise.
Bereits im ersten Wahlgang am 30. Juni treten sie mit einheitlichen Kandidaturen an. Die 557 Kandidaturen der Neuen Volksfront wurden am Sonntag eingereicht. 229 Wahlkreise gehen an La France Insoumise, 175 an die PS, 92 an die Grünen und 50 an die Kommunisten. Einige von ihnen wurden verbündeten Kräften wie der NPA oder Persönlichkeiten aus Vereinen oder Gewerkschaften gegeben.
In unglaublich kurzer Zeit einigten sich die Parteien auf ein Wahlprogramm. Am Freitag vergangener Woche (14.6.) stellten sie das "Programm des Bruchs" der Neuen Volksfront vor.
Die "Neue Volksfront" will im Falle eines Wahlsieges zahlreiche sozial-und wirtschaftspolitische Reformen umsetzten.
- Im Bereich der Sozialpolitik beispielsweise wird eine Erhöhung des Mindestlohns auf 1.600 Euro netto gefordert, die Rückkehr zu einem Renteneintrittsalter von 60 Jahren, die Reform der Arbeitslosenversicherung, die Stärkung der Kaufkraft durch Deckelung der Preise für Nahrungsmittel des täglichen Bedarfs, für Energie und Treibstoff. Letzteres ist im weitgehend ländlich geprägten Frankreich eine besonders wichtige Forderung.
"Wir werden diese ungerechte Rentenreform aufheben".
Marine Tondelier, Nationalsekretärin der Grünen
- Ökologische Wende durch ökologische Planung, Ausstieg aus der Atomenergie und Ablehnung unnötiger Großprojekte (Megabassines, Autobahnprojekt A69,...). Einen Klimaplan mit dem Ziel der Kohlendioxidneutralität bis 2050. Stärkung der Strukturierung von Wertschöpfungsketten Frankreichs und Europas zur Herstellung von erneuerbarer Energien.
- Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, Rücknahme der Privatisierungen
- Plan für den industriellen Wiederaufbau, um der Abhängigkeit Frankreichs und Europas in strategischen Bereichen (Halbleiter, Medikamente, Spitzentechnologien, Elektroautos, Sonnenkollektoren usw.) ein Ende zu setzen
- Kampf gegen alle Formen von Rassismus, gegen Antisemitismus und Islamophobie
- Progressive Einkommen- und Erbschaftssteuer; Wiedereinführung einer Solidaritätssteuer auf Vermögen (ISF), verstärkt um eine Klimakomponente;
- Ausbau der öffentlichen Dienstleistungen
- Ziel einer effektiven Wochenarbeitszeit von 35 Stunden; sofortiger Übergang zu 32 Stunden in anstrengenden Berufen oder bei Nachtarbeit
- In Bezug auf die EU wird der Haushaltsstabilitätspakt abgelehnt; die Politik der Freihandelsverträge soll beendet werden; an den Grenzen der EU soll mit ökologischem und sozialem Protektionismus dem Sozial-, Umwelt- und Steuerdumping ein Ende gesetzt werden
- Außenpolitisch wird auf eine Diplomatie gesetzt, die die globalen Gemeingüter fördert, die Umwelt bewahrt (Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes für Klima- und Umweltgerechtigkeit), 0,7% des BSP für öffentliche Entwicklungshilfe, Aufhebung von Patenten auf Impfstoffe und medizinische Mittel zur Bekämpfung von Pandemien, Entmilitarisierung des Weltraums.
Außenpolitisch wurden schwierige politische "Deals" geschlossen. So bekennt sich die Neue Volksfront zur vollständigen Solidarität mit der Ukraine inklusive Waffenlieferungen, ergreift aber im Gazakrieg klar Partei für die Palästinenser und gegen die "rechtsextreme, rassistische" Regierung von Netanjahu. Wörtlich heißt es:
DIE UKRAINE UND DEN FRIEDEN AUF DEM EUROPÄISCHEN KONTINENT VERTEIDIGEN
Um Wladimir Putins Angriffskrieg zu stoppen und ihn vor der internationalen Justiz für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen:
- Unerschütterliche Verteidigung der Souveränität und Freiheit des ukrainischen Volkes sowie der Integrität seiner Grenzen durch die Lieferung der erforderlichen Waffen,
- Beschlagnahme der Vermögenswerte von Oligarchen, die zu den russischen Kriegsanstrengungen beitragen, in dem vom Völkerrecht erlaubten Rahmen,
- die Entsendung von Blauhelmen, um die Atomkraftwerke in einem internationalen Kontext der Spannungen und des Krieges auf dem europäischen Kontinent zu sichern und auf die Rückkehr des Friedens hinzuarbeiten. (eigene Übersetzung)
Zu Gaza heißt es:
HANDELN FÜR EINEN SOFORTIGEN WAFFENSTILLSTAND IN GAZA UND FÜR EINEN GERECHTEN UND DAUERHAFTEN FRIEDEN
- Die sträflichen Unterstützung der französischen Regierung für Netanjahus rechtsextreme, rassistische Regierung beenden und einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza erzwingen und den Beschluss des Internationalen Gerichtshofs durchzusetzen, der unmissverständlich auf die Gefahr eines Völkermords hinweist.
- Für die Freilassung der Geiseln, die seit den terroristischen Massakern der Hamas, deren theokratisches Projekt wir ablehnen, festgehalten werden, und für die Freilassung der palästinensischen, politischen Gefangenen zu kämpfen.
- Unterstützung des Internationalen Strafgerichtshofes bei der Verfolgung der Hamas-Führung und der Regierung von Netanjahu.
- Sofortige Anerkennung des Staates Palästina neben dem Staat Israel auf der Grundlage der UN-Resolutionen.
- Embargo für Waffenlieferungen an Israel verhängen.
- Verhängung von Sanktionen gegen die rechtsextreme Regierung von Netanjahu, solange diese nicht das Völkerrecht in Gaza und im Westjordanland respektiert.
- Aussetzung des Assoziierungsabkommens EU-Israel, das an die Einhaltung der Menschenrechte geknüpft ist.
- Ermöglichung der Abhaltung freier Wahlen unter internationaler Kontrolle, um den Palästinensern die Möglichkeit zu geben, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden.
- Durchsetzung der Souveränität des Libanon und den Schutz der 700 Franzosen, die sich unter Blauhelm für das internationale Recht einsetzen.
Insgesamt wurde ein 100-Tage-Programm für die Regierungsübernahme vorgelegt, wobei auch in den anderen Politikbereichen Einigungen erzielt wurden, die über Formelkompromisse hinausgehen.
Konflikte
Die Koalition hat eine große symbolische Bedeutung, denn sie erinnert an das Bündnis von Sozialisten und Kommunisten in den 1930er Jahren unter der Führung von Léon Blum, das dem Angriff der faschistischen Rechten auf die Macht ein Ende setzte und eine große Zeit der Kämpfe und Siege für die französische Arbeiterbewegung einleitete. Aber Symbole allein reichen nicht aus, um die Spaltungen innerhalb der vielfältigen Realitäten der Linken vollständig zu verbergen.
In den letzten Tagen vor der offiziellen Bekanntgabe der Kandidaturen sorgte die überraschende Aufstellung von François Hollande für Verlegenheit. "Ich wusste nichts davon", sagte Olivier Faure, Vorsitzender der Sozialistischen Partei, im Fernsehen, "aber da er die Koalition unterstützt, ist es wichtig, für alle Tendenzen offen zu sein."
Der Ex-Präsident der Republik, dessen Wirtschaftsminister Macron kurzzeitig war, sagte, es sei notwendig, "eine außergewöhnliche Entscheidung angesichts einer außergewöhnlichen Situation zu treffen". Die PS ihrerseits hat die Entscheidung des lokalen Parteiverbands, ihn unter den Farben des Front Populaire zu präsentieren, "zur Kenntnis genommen".
Zur Kandidatur von Hollande, einer Figur am rechten Rand der sozialistischen Partei, die von einem großen Teil der französischen Linken verabscheut wird, gesellt sich eine weitere umstrittene Kandidatur: die von Aurélien Rousseau, ehemaliger Kabinettschef von Élisabeth Borne und einer der Architekten von Macrons Rentenreform, der dann im Dezember im Streit die Macronie verließ. Rousseau wird von Place Publique unterstützt, der kleinen Partei von Raphaël Glucksmann, dem Spitzenkandidaten der PS bei den Europawahlen.
Auch auf der linken Seite der Koalition hat es Erdstöße gegeben. So hat die LFI beschlossen, einige langjährige Abgeordnete wie Alexis Corbière und Danielle Simonnet nicht wieder zu bestätigen. Letztere prangerte eine regelrechte "Säuberung" an, die darauf abzielte, jene Personen aus der Partei auszuschließen, die in letzter Zeit als zu kritisch gegenüber Jean-Luc Mélenchon eingestuft wurden. Die Entscheidung sorgte für Aufruhr unter den Verbündeten, die die LFI aufforderten, die "Gesäuberten" wieder aufzunehmen, die angekündigt hatten, trotz der fehlenden Unterstützung durch die Partei zu kandidieren.
Die komplexen Verflechtungen zwischen den sich bekämpfenden Parteiapparaten, zwischen den lokalen Sektionen und den nationalen Führungen, bereiten mehr als nur Kopfzerbrechen wegen einer Handvoll Kandidaten, wobei einige der konservativeren Teile der Koalition sich weigern, einige der radikaleren Kandidaten zu unterstützen (und umgekehrt). Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang der Fall von Raphael Arnault, einem jungen, militanten antifaschistischen Kandidaten in den Reihen der LFI, der jedoch von der lokalen PS wie auch vom Sekretär der Kommunistischen Partei, Fabien Roussel; als "zu extremistisch" eingestuft wird. Die lokale PS will trotz der von den jeweiligen nationalen Parteien unterzeichneten Vereinbarungen einen Gegenkandidaten aufstellen.
Erscheinungen, die zwar die Wahldynamik nicht zu untergraben scheinen, jedoch die Kluft zwischen einer moderaten Linken, die der PS von François Hollande (deren Wirtschaftsminister Macron war) nahesteht, und einer radikaleren Linken, die entschlossen ist, mit der neoliberalen Politik zu brechen und deren Zentrum La France Insoumise ist, offenbaren.
Stefano Palombarini, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Paris und ehemaliges Parlamentsmitglied der Volksunion NUPES, sagte, dass "die Spaltungen, die die NUPES geplagt haben, bestehen bleiben." Die grundlegende Differenz, so Palombarini, "besteht zwischen einer von Raphaël Glucksmann vertretenen Linken und der PS-Rechten auf der einen Seite, deren Projekt die Vertiefung des europäischen Aufbaus, die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zur Kommission und den EU-Institutionen ist", und auf der anderen Seite einer von der LFI angeführten Linken, deren Projekt "der Bruch mit dem Neoliberalismus, die ökologische Planung, die Durchführung wichtiger Steuerreformen" ist. Ein Bruch mit einer Politik, die laut Palombarini "den Konflikt mit eben dieser Kommission und eben diesen europäischen Institutionen erfordert. Dieser Konflikt bleibt im Rahmen der Vereinbarung mit der Front Populaire ungelöst".
Im Namen der Notwendigkeit, zu verhindern, dass die extreme Rechte an die Macht kommt, werden die Differenzen jedoch vorerst beiseite geschoben.
Unterstützung von den Bewegungen
Neben den Apparaten sind aber auch die Bewegungen an der Volksfront beteiligt und üben erheblichen Druck auf die Parteien aus. Am Samstag (15.6.) beteiligten sich in ganz Frankreich Hunderttausende Menschen an den Demonstrationen gegen die extreme Rechte. Fünf Gewerkschaften - CGT, CFDT, UNSA, FSU und Solidaires - hatten dazu aufgerufen "so breit wie möglich" zu demonstrieren. Vereinigungen wie Emmaüs, Oxfam, Greenpeace, LDH, Attac oder SOS racisme schlossen sich dem Aufruf an. Nach Angaben der CGT haben mindestens 640.000 Menschen in ganz Frankreich demonstriert, davon 250.000 in Paris.
"Es ist ein sehr starkes Signal der Hoffnung", sagte Sophie Binet, die Generalsekretärin der CGT, "wir sagen nicht nur 'Nein zur extremen Rechten', sondern wir sagen auch, dass wir soziale und fortschrittliche Alternativen wollen, wir wollen höhere Löhne und Renten, Investitionen in öffentliche Dienstleistungen, wir wollen sozialen und ökologischen Fortschritt". Die CGT ruft auf, die Neue Volksfront zu wählen. Allerdings warnt Sophie Binet: "Das ist kein Blankoscheck“.
Die Mobilisierung der Basis der französischen Linken, die durch die Vereinigung der Linken aufgerüttelt wurde und entschlossen ist, die Machtübernahme der extremen Rechten zu verhindern, war ausschlaggebend dafür, dass die Parteien ein historisches Abkommen geschlossen haben, und sie wird auch ausschlaggebend dafür sein, dass die Neue Volksfront an den Wahlurnen eine Chance hat, zu gewinnen.
Nach der Stichwahl am 7. Juli wird sich zeigen, ob eine antifaschistische Widerstandsfront oder eine potenziell faschistische Kraft die Regierung in Frankreich übernehmen wird.