02.11.2020: Hinter Panzerglas von seinen Verteidigern isoliert und vorgeführt wie ein Schwerverbrecher oder Terrorist, musste sich Julian Assange bei der Anhörung im Zentralen Strafgerichtshof Old Bailey in London gegen die drohende Auslieferung in die USA wehren.
Die US-Justiz wirft dem Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks unter anderem vor, vor zehn Jahren der Whistleblowerin Chelsea Manning dabei geholfen zu haben, "Staatsgeheimnisse" zu veröffentlichen. Was nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte, waren allerdings in Wahrheit Kriegsverbrechen von US-Militärs im Irak und in Afghanistan, die ohne Assange und Wikileaks vermutlich auf ewig im Verborgenen geblieben wären.
Das "Collateral Murder Video" etwa zeigt, wie Soldaten in Bagdad aus einem Hubschrauber wie in einem Videospiel mehr als ein Dutzend Menschen massakrieren, unter ihnen zwei Journalisten von Reuters. Ein Kleinbus, der stoppt, um Verletzte zu retten, wird ebenfalls angegriffen, der Retter gezielt erschossen. Seine beiden Kinder überleben schwerverletzt.
Julian Assange & WikiLeaks - 10-jähriges Jubiläum der Veröffentlichung von “Collateral Murder” |
Doch bis heute wurde keiner derjenigen, die die Kriegsverbrechen im Irak begangen oder befohlen haben, zur Rechenschaft gezogen. Assange aber, Aufdecker von Kriegsverbrechen, staatlicher Folter und Korruption, droht eine absurd hohe Freiheitsstrafe.
Bei einer Auslieferung erwarten den WikiLeaks-Journalisten bis zu 175 Jahre Isolationshaft und psychologische Folter in einem so genannten Supermax-Gefängnis in den USA, wie durch Zeugenaussagen während der Anhörungen im September nochmals verdeutlicht wurde. Anders gesagt – er würde de facto zum Tode verurteilt.
Urteil erst im Januar
Nachdem vom 07. September bis 01. Oktober 2020 der Schauprozess gegen Julian Assange in London in die zweite Runde gegangen war, wird das Urteil zu der von den USA geforderten Auslieferung erst im neuen Jahr erwartet. Die vorsitzende Richterin Vanessa Baraitser hatte angekündigt, ihr Urteil erst nach den US-Wahlen bekanntgeben zu wollen. Am 04. Januar 2021 will sie ihre Entscheidung verkünden.
Bis zur Urteilsverkündung muss spätestens alle 28 Tage eine administrative oder technische Anhörung stattfinden, damit Julian Assange weiter in Auslieferungshaft im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh gefangen gehalten werden kann.
Die Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung werden im November schriftlich eingereicht. Julian Assange hat zwar das Recht, den Entwurf des Plädoyers im Vorfeld zu lesen, aber die Verantwortlichen des Hochsicherheitsgefängnisses Belmarsh haben es bisher "nicht geschafft", ihm den Laptop auszuhändigen, auf dem das Plädoyer gespeichert ist.
"Das wirklich Erschreckende an diesem Fall ist der rechtsfreie Raum, der sich entwickelt hat: Mächtige können straflos über Leichen gehen, und aus Journalismus wird Spionage. Es wird ein Verbrechen, die Wahrheit zu sagen."
Prof. Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter über Folter [1]
2012 flüchtete Assange in die Botschaft Ecuadors in London, wo er jahrelang ausharrte. Schweden verlangte eine Auslieferung, weil dort seit 2010 wegen des Verdachts der Vergewaltigung in drei Fällen gegen Assange ermittelt wurde. Die Verfahren sind inzwischen eingestellt. Assange befürchtete, von Schweden an die USA ausgeliefert zu werden.
US-Agenten erwogen eine Vergiftung von Assange, sagte ein Zeuge bei der Auslieferungsanhörung
Während des siebenjährigen Asyls in der ecuadorianischen Botschaft in London, wurde Assange von einem US-gesteuerten privaten Sicherdienst selbst auf der Toilette bespitzelt. Bei der Auslieferungsanhörung berichteten gleich zwei Zeugen, Mitarbeiter der spanischen Sicherheitsfirma Undercover Global, die von der ecuadorianischen Regierung mit dem Schutz ihrer Botschaft in London beauftragt worden war, von Abhörwanzen an Feuerlöschern, von Videoüberwachung in Echtzeit, von Konzentration der Ausspähung speziell auf Assanges Anwälte, vom Ausspionieren aller Besucher inklusive des Kopierens von Daten aus – beim Betreten der Botschaft abzugebenden – Tabletcomputern und Mobiltelefonen. Das illegal gesammelte Material sei in die USA gegangen, so die Zeugen.
Einer der Zeugen berichtete sogar von Überlegungen von US-Agenten, "extremere Maßnahmen" gegen Assange einzusetzen. So hätten ihre US-Auftraggeber angeregt, die Botschaftstür offen zu lassen, um es nicht näher beschriebenen Personen zu ermöglichen, einzudringen und Assange zu entführen oder zu vergiften. Weshalb der in Betracht gezogene Giftmord letztlich nicht zur Ausführung kam, ist unbekannt. [2]
Im April 2019 vollzog der neu an die Macht gekommene ecuadorianische Präsident Lenín Moreno eine Kehrtwende zur Politik seines Vorgängers Rafael Correa. Er entzog Assange das Asyl und auch die ecuadorianische Staatsbürgerschaft, die der verfolgte Journalist während seiner Zeit in der Botschaft erhalten hatte.
Nach siebenjährigem Asyl in der ecuadorianischen Botschaft zerrte die britische Polizei am 11. April 2019 Julian Assange mit Gewalt aus der Botschaft und verschleppte ihn in das Hochsicherheitsgefängnis für Terroristen Belmarsh, in London Woolwich. "Wegen des Nicht-Einhaltens von Kautionsauflagen" wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt, die er seit Ende September 2019 abgesessen hat. Obwohl die Haftzeit also längst abgelaufen ist, bleibt Assange weiter im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh eingesperrt. Die meiste Zeit davon in Isolationshaft, einzig zu dem Zweck, eine Auslieferung an die USA sicherzustellen.
Er darf im Gefängnis seine Kinder und ihre Mutter nicht sehen, er darf sich mit seinen Anwälten nicht regelmäßig austauschen, er ist psychologischer Folter ausgesetzt, sein Überleben steht auf dem Spiel. Der UN-Sonderberichterstatter zum Thema Folter, Nils Melzer, spricht von einer "gangsterhaften Verschwörung" gegen Assange und stellte nach eingehendem Aktenstudium fest, dass staatliche Stellen hier einen Vergewaltigungsverdacht gegen Assange konstruierten, um den Auslieferungsvorwand für Assange begründen zu können. Melzer bezeichnete die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange als "Startschuss für ein Jahrzehnt schwerster staatlicher Willkür und Verfolgung".
"Großbritannien verletzt auf eklatante Weise seine menschenrechtlichen Verpflichtungen"
Christian Mihr, Reporter ohne Grenzen
Ausschluss der Öffentlichkeit
Die Öffentlichkeit wurde von dem Anhörungsverfahren weitgehend ausgeschlossen. Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und weitere NGOs hatten noch bis zum 07. September die Zusage, das "Verfahren" per Videolink beobachten zu können. Der Zugang per Videolink wurde kurz nach Auftakt der "Verhandlungen" willkürlich widerrufen. Die einzige Möglichkeit den Prozess zu beobachten war das persönliche Erscheinen vor Ort, in der Hoffnung, einen der wenigen Plätze auf der Besuchertribüne zu ergattern. Für die Öffentlichkeit und Familienangehörige standen nur noch insgesamt 6 Plätze zur Verfügung.
Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen e. V. Deutschland, sagt:
"Ich habe für Reporter ohne Grenzen (RSF) viele offenkundige Schauprozesse beobachtet – etwa in der Türkei, einem Land, das eine Hexenjagd auf unabhängige Journalist*innen veranstaltet. Bei diesen Willkürprozessen ist es üblich, dass RSF – auch unter Coronabedingungen – als internationaler Prozessbeobachter garantierten Zugang von den türkischen Justizbehörden erhält.
Anders beim Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange im Mutterland der Demokratie, in Großbritannien, das RSF als einzige NGO in den vergangenen Wochen beobachtet hat. Wir haben uns um eine Sitzplatzgarantie bemüht, diese und auch ein Videozugang wurden uns explizit von den britischen Behörden verwehrt. Dennoch erhielt RSF durch allmorgendliches Anstehen an fast allen Verhandlungstagen Zugang zu den nur sechs Plätzen auf der öffentlichen Tribüne in einem Nebensaal des Gerichtssaals.
Über Gründe kann man nur spekulieren. Fest steht aber: Großbritannien verletzt auf eklatante Weise seine menschenrechtlichen Verpflichtungen, denen zufolge eine öffentliche Beobachtung von Verfahren sichergestellt werden muss."[4]
Bundesregierung duckt sich weg
Für die deutsche Bundesregierung alles anscheinend nicht Anlass genug, die überhand nehmenden Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien anzuprangern und Bündnispartner Großbritannien zur Einhaltung der Menschenrechte zu ermahnen – wie sie es doch so gerne bei Russland oder China tut. In diesem Fall aber schweigt die Bundesregierung eisern und duckt sich weg.
"Das Auswärtige Amt hat keine Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit britischer justizieller Verfahren. Weiterhin ist es grundsätzlich nicht die Aufgabe der Bundesregierung, die Verhältnismäßigkeit der von britischen Gerichten verhängten Strafen zu bewerten", antwortet Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) auf eine Anfrage der Grünen.[3]
"Max Horkheimer schrieb Ende der 1930er: 'Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte vom Faschismus schweigen.' Unsere Version davon ist: Wer nicht über das Unrecht gegen Assange sprechen will, sollte auch zu Menschenrechtsverletzungen in Hongkong und Belarus schweigen. Der Rufmord an ihm ist einer der Gründe, warum zu seiner Verteidigung nie eine breitere Bewegung entstand, wie etwa Black Lives Matter oder Extinction Rebellion. Jetzt, da Assanges nacktes Überleben in Gefahr ist, kann nur eine solche Bewegung ihn (vielleicht) retten."
Slavoj Žižek | der Freitag, Ausgabe 40/2020
Der Kampf um Julian Assanges Freiheit geht weiter
"Während wir auf Julian Assanges Urteilsspruch zum Auslieferungsverfahren warten, geht der Kampf um seine Befreiung weiter", heißt es vom "Belmarsh Tribunal". "Zu oft hören wir, dass Proteste keinen Erfolg haben oder dass Widerstand keine Ergebnisse erzielen wird. Es steht zu viel auf dem Spiel, um dieser Welle des Pessimismus zu verfallen, wenn quasi die Pressefreiheit vor Gericht steht."
"Wie bereits erwähnt, wird die Verkündung des Urteil über die Auslieferung von Assange am 4. Januar 2021 erwartet — das kann aber nur als der Beginn eines langwierigen, juristischen Saga angesehen werden, da sicherlich mit Berufung zu rechnen ist. Während die Staatsanwaltschaft und die Verteidiger die Schlussplädoyers vorbereiten, die im November nicht mündlich vorgetragen, sondern schriftlich vorgelegte werden müssen, verbleibt Assange in Belmarsh. Gleichzeitig wachsen die Bedenken über mögliche Selbstverletzungen Assanges oder gar Suizid.
So lange Julian in Belmarsh einsitzt, wird das Belmarsh Tribunal einer Auslieferung entgegenwirken. Wenn Julian ausgeliefert werden sollte, werden wir mit allen Mitteln versuchen, zu verhindern, dass er endgültig weggesperrt wird. Wenn er in der USA für schuldig befunden wird, werden wir gegen eine Inhaftierung protestieren.
Hier geht es nicht nur um Julian Assange, sondern um die Pressefreiheit und das Recht von Whistleblowern, Korruption aufzudecken.
Wir können und dürfen diesen Kampf nicht aufgeben."[5]
Belmarsh Tribunal klagt die USA für die von Assange aufgedeckten Verbrechen an |
Anmerkungen:
[1] Nils Melzer "Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System",
https://www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange
[2] Deutsche Welle, 02.10.2020: "Fall Assange: Explosive Zeugenaussage"
https://www.dw.com/de/fall-assange-explosive-zeugenaussage/a-55132597
[3] https://margit-stumpp.de/wp-content/uploads/2016/12/200107_Schreiben-von-BM-Maas-Assange.pdf
[4] taz, 15. 10. 2020: Auslieferungsverfahren Julian Assange: Leben oder Tod
https://taz.de/Auslieferungsverfahren-Julian-Assange/!5717554/
[5] Belmarsh Tribunal klagt die USA für die von Assange aufgedeckten Verbrechen an
https://www.pressenza.com/de/2020/10/belmarsh-tribunal-klagt-die-usa-fuer-die-von-assange-aufgedeckten-verbrechen-an/
auf kommunisten.de
- Julian Assange & WikiLeaks - 10-jähriges Jubiläum der Veröffentlichung von “Collateral Murder”
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