03.05.2022: Weil die EU-Grenzschutzagentur Frontex in Seenot geratenen Booten mit Flüchtenden die Rettung verweigert, hat die Rettungsorganisation Sea-Watch Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben. ++ Investigativbericht internationaler Medien und EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf beweisen: Frontex-Leitung hat von Menschenrechtsverletzungen gewusst und nicht gemeldet. ++ Frontex-Chef Fabrice Leggeri tritt zurück. ++ Sea-Watch: Das strukturelle Problem, das den Kern von Frontex ausmacht, besteht auch nach dem Rücktritt von Leggeri fort.
Weil die EU-Grenzschutzagentur Frontex in Seenot geratenen Booten mit Flüchtenden die Rettung verweigert und sie zurück nach Libyen gedrängt hat, hat die Rettungsorganisation Sea-Watch nun Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuG) in Luxemburg erhoben. Konkret bezieht sich Sea-Watch auf den Fall eines völkerrechtswidrigen Pullbacks vom 30.07.2021, der vom Sea-Watch Aufklärungsflugzeug Seabird sowie dem Rettungsschiff Sea-Watch 3 bezeugt wurde.
In einer Presserklärung von Sea-Watch heißt es:
"Innerhalb der maltesischen Such- und Rettungszone wurde ein Boot in Seenot mit etwa 20 Menschen an Bord durch die sogenannte libysche Küstenwache abgefangen und nach Libyen zurückgeschleppt. Das Rettungsschiff Sea-Watch 3 war das nächstgelegene Schiff mit Rettungskapazität, wurde jedoch von keiner Behörde informiert. Maltesische Verantwortliche verweigerten sich ihrer Pflicht, die Rettungsmaßnahmen zu koordinieren und dafür zu sorgen, dass die Menschen in Seenot an einen sicheren Ort gebracht werden, wie es das internationale See- und Menschenrecht vorsieht. Vor dem Abfangen des Bootes war eine Frontex-Drohne wiederholt vor Ort und in der Nähe des Seenotfalls, weshalb von einer Beteiligung von Frontex am völkerrechtswidrigen Pullback ausgegangen werden muss." [1]
Die Hilfsorganisation hatte Frontex nach eigenen Angaben mehrfach aufgefordert, Informationen zu dem Vorfall herauszugeben. Die Agentur habe sich aber lediglich zum Umfang der vorhandenen Daten geäußert. Der Verein will nun die Freigabe der zurückgehaltenen Informationen erwirken.
Für Sea-Watch äußerte sich Marie Naass, die Leiterin der Rechtsabteilung des Vereins:
"Frontex predigt Transparenz, arbeitet aber wie ein Geheimdienst. Mit dem Argument der öffentlichen Sicherheit verweigert die Grenzagentur jegliche Information, während gleichzeitig Menschen unter Verletzung des Völkerrechts in Folter und Unsicherheit zurückgeschleppt werden. Frontex spricht von öffentlicher Sicherheit, meint aber die Sicherheit, für seine Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können."
Mit Unterstützung der Organisation FragDenStaat hat Sea-Watch deshalb Klage gegen Frontex vor dem Gericht der Europäischen Union erhoben, um die Freigabe der zurückgehaltenen Informationen zu erreichen und zu beweisen, dass Frontex an Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer maßgeblich beteiligt ist.
Luisa Izuzquiza, die Brüsseler Büroleiterin von FragDenStaat, erklärt:
"Frontex ist rechtlich verpflichtet, seine Operationen transparent zu machen – und doch verweigert die Grenzschutzagentur systematisch den Zugang zu Informationen über ihre Aktivitäten, im zentralen Mittelmeer und anderswo. Dies ist ein gefährliches Muster. Ohne Transparenz können wir Frontex nicht zur Rechenschaft ziehen, was den Nährboden für Straflosigkeit und weiteren Missbrauch schafft."
Griechische Küstenwache stößt Boot mit Flüchtenden mit Stangen zurück |
Gegen Frontex wurde bereits im Sommer vergangenen Jahres Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben. Die von Menschenrechtsorganisationen eingereichte Klage erfolgte im Namen eines unbegleiteten Minderjährigen und einer Frau, die Frontex der Misshandlung und der gewaltsamen Zurückweisung in die Türkei beschuldigen. (siehe kommunisten.de: Frontex erstmals vor dem EU-Gerichtshof für Menschenrechte)
Frontex-Chef Leggeri zurückgetreten
Einen Tag nach der Veröffentlichung der Klage durch Sea-Watch hat der Direktor von Frontex, Fabrice Leggeri, den Posten mit sofortiger Wirkung geräumt. Der Druck war zu groß geworden.
Ein ebenfalls am 28. April erschienener gemeinsamer Investigativbericht der französischen Zeitung Le Monde, des Spiegels, der Schweizer Medien SRF Rundschau und Republik sowie des niederländischen Mediums Lighthouse Reports kommt zu dem Ergebnis, dass Frontex trotz öffentlicher Dementis laut ihrer eigenen Datenbank in illegale Zurückstoßung von Schutzsuchenden verwickelt gewesen ist.
Nach diesen Angaben sind mindestens 957 Asylsuchende aus Schlauchbooten geholt, in Rettungsinseln aus griechischen Beständen gesetzt und auf dem Meer zurückgelassen worden. Die Maßnahmen seien unter dem Titel "Verhinderung der Ausreise" (aus der Türkei, woher die Flüchtenden kamen) gelaufen, so die Untersuchung. Fabrice Leggeri habe "über Monate hinweg versucht, die Pushbacks zu vertuschen", wird dem Ex-Direktor der EU-Behörde vorgeworfen.
Leggeri steht wegen der illegalen Pushbacks seit Jahren in der Kritik. Anfangs kamen Rücktrittsforderungen nur aus der Linksfraktion im EU-Parlament, später schlossen sich die Sozialdemokraten an. Allein blieb die Linke allerdings mit ihrem Antrag auf einen Untersuchungsausschuss. Stattdessen formierte sich eine parlamentarische Frontex-Kontrollgruppe, deren Arbeit von Rechten und Konservativen immer wieder sabotiert wurde.
Erdrückende Beweise für Menschenrechtsverletzungen
Die Beweise, die die Gruppe sammelte, waren erdrückend. So erhielten die Abgeordneten immer mehr Beweise für die Beteiligung von Frontex an Push-Backs an den EU-Außengrenzen. Dazu gehörte auch Videomaterial, das Push-Backs durch griechische Behörden zeigte, die von Frontex-Beamten in Echtzeit beobachtet wurden, die nichts unternahmen.
Trotzdem musste die spanische EU-Abgeordnete Sira Rego (Izquierda Unida in The Left / GUE/NGL) resigniert feststellen: "Es war unmöglich, Frontex zu untersuchen. Das Bündnis zwischen den rechten Parteien hat die Arbeit behindert und eine gründliche Untersuchung verhindert."
MdEP Sira Rego: "Es war unmöglich, Frontex zu untersuchen″ |
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Frontex erstmals vor dem EU-Gerichtshof für Menschenrechte |
Schließlich schaltete sich die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf ein, nahm Ermittlungen auf und erstellte einen 200-seitigen Bericht. Im Februar informierte Olaf-Generaldirektor Ville Itälä die Abgeordneten zweier EU-Parlamentsausschüsse über die Ergebnisse der Ermittlungen. Demnach habe die Frontex-Leitung von Menschenrechtsverletzungen gewusst und diese trotzdem nicht gemeldet.
"Die Beteiligung von Frontex an Menschenrechtsverletzungen wird nicht aufhören, nur weil Leggeri weg ist."
Cornelia Ernst, MdEP, DIE LINKE
Die deutsche EU-Abgeordnete Cornelia Ernst (DIE LINKE in The Left / GUE/NGL) begrüßte den Rücktritt: "Leggeri war persönlich aktiv an der Komplizenschaft von Frontex bei Grundrechtsverletzungen beteiligt, und die Vertuschung dieser Komplizenschaft beinhaltete mehr als eine Lüge gegenüber dem Parlament. Wir haben seinen Rücktritt seit Jahren gefordert. Er war überfällig." Ernst verweist auf "die gravierenden strukturellen Probleme der EU-Grenzschutzagentur, die angegangen werden müssen. Die Beteiligung von Frontex an Menschenrechtsverletzungen wird nicht aufhören, nur weil Leggeri weg ist. Jetzt ist es an der Zeit, weiter zu gehen. Frontex muss seine Operationen in Griechenland gemäß Artikel 46 der Frontex-Verordnung sofort aussetzen."
"Wir brauchen einen kompletten Wandel in der Migrationspolitik der EU"
Sira Rego, MdEP, Izquierda Unida
Auch Sira Rego begrüßte den Rücktritt von Leggeri als "eine gute Nachricht". Sie schränkt aber ein: "Das Problem mit Frontex ist nicht nur Fabrice Leggeri, das Problem mit Frontex ist ein strukturelles. Deshalb reicht dieser Rücktritt nicht aus und wir brauchen einen kompletten Wandel in der Migrationspolitik der EU."
Auch die Hilfsorganisation Sea Watch glaubt nicht an einen Paradigmenwechsel in der Agentur: "Nach zahllosen Lügen, Täuschungen und Menschenrechtsverletzungen besteht das strukturelle Problem, das den Kern von Frontex ausmacht, trotzdem weiter fort."
EU-Kommission: Frontex erfüllt zentrale Rolle
Deutlich zurückhaltender gibt sich die EU-Kommission: Man nehme den Rücktritt des Direktors zur Kenntnis und weise Rufe nach einer Auflösung von Frontex zurück, hieß es am Freitag aus Brüssel. Die Agentur erfülle eine zentrale Rolle, indem sie die Mitgliedstaaten beim Schutz der Außengrenzen unterstütze und "zugleich die Grundrechte hochhalte".
Eine kritische Aufarbeitung der Ära Leggeri wird es offenbar nicht geben.
ZDF Magazin Royale, 05.02.2021: Die geheimen Dates von Frontex und der Rüstungsindustrie | |
Anmerkungen
[1] Sea-Watch, Presseerklärung, 28.4.2022: Sea-Watch bringt Frontex vor Gericht
https://sea-watch.org/sea-watch-bringt-frontex-vor-gericht/
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