06.03.2019: UN-Menschenrechtsrat veröffentlicht Bericht über Vorgehen der israelischen Armee an der Grenze zum Gaza-Streifen: "Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte und Gesetze der Menschlichkeit " ++ Scharfschützen haben gezielt auf Kinder, Behinderte, Rettungskräfte und Journalisten geschossen
Nur wenige Wochen vor der vorgezogenen Parlamentswahl am 9. April hat ein Gremium der Vereinten Nationen (UN) bestätigt, dass das israelische Militär bei seinem Vorgehen am Grenzzaun zum Gaza-Streifen gegen demonstrierende Palästinenserinnen und Palästinenser gravierende Verstöße gegen die Gesetze der Menschlichkeit und die Menschenrechte begangen hat, von denen einige als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen sind.
Das ist die Quintessenz des jüngsten Berichts einer vom Menschenrechtsrat der UNO eingesetzten unabhängigen Untersuchungskommission, der am 28. Februar in Genf veröffentlicht wurde.
"Die Kommission hat ausreichende Gründe für die Annahme, dass israelische Soldaten während des »Großen Marsches der Rückkehr« Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte und Gesetze der Menschlichkeit begangen haben. Einige von diesen Verstößen könnten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen und müssen sofort von Israel untersucht werden", sagte der Vorsitzende der Untersuchungskommission, der argentinische Jurist und Völkerrechtsexperte Santiago Canton, bei der Veröffentlichung des Berichts.
Mehr als 6.000 Demonstrierende von Scharfschützen beschossen. 189 getötet.
Es habe "keine Rechtfertigung für Israel" gegeben, "Protestierende mit scharfer Munition zu beschießen", heißt es in einer Mitteilung über den Bericht auf der Online-Plattform des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR). Laut dem Bericht sind seit dem Beginn der palästinensischen Demonstrationen im Gazastreifen in der Nähe des Grenzzauns zu Israel ab dem 30. März 2018 bis 31. Dezember 2018 mehr als 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer von israelischen militärischen Scharfschützen (Snipers) beschossen worden. 189 Palästinenserinnen und Palästinenser wurden dabei in diesem Zeitraum getötet, davon 183 durch Schüsse mit scharfer Munition. 35 davon waren noch im Kindesalter, drei Getötete waren klar als medizinisches Hilfspersonal, zwei als Pressevertreter gekennzeichnet.
Am 6. April wurde der Journalist Yaser Murtajan der Grenze Gaza/Israel von der israelischen Armee gezielt beschossen, eine Kugel traf ihn am Bein, eine zweite Kugel traf ihn am Boden liegend im Bauch. Am Tag darauf erlag er seinen Verletzungen. |
zu den Protesten im Gaza-Streifen im Mai 2018: |
Laut den von der Untersuchungskommission untersuchten Daten sind im gleichen Zeitraum 6.106 Demonstranten mit scharfer Munition verletzt worden, 3.098 weitere mit Splittergeschossen, gummiüberzogenen Metallbolzen oder durch Tränengaskanister.
Demgegenüber gab es laut dem Kommissionsbericht nur einen israelischen Soldaten, der an einem der Protesttage getötet wurde, aber außerhalb des Demonstrationsbereichs. Vier weitere israelische Soldaten wurden bei den Demonstrationen verletzt.
"Besonders alarmierend ist es, dass Kinder und Menschen mit Behinderungen absichtlich zur Zielscheibe wurden.“
Kommissionsmitglied Sara Hossain.
"Es kann keine Rechtfertigung geben für die Tötung und Verletzung von Journalisten, Medizinern und Personen, die keine unmittelbare Lebensgefahr oder Verletzungsgefahr für diejenigen in ihrer Umgebung darstellen", betonte die Anwältin Sara Hossain aus Bangladesch bei der Vorstellung des Berichts. Sie war zusammen mit der Anwältin Betty Murungi aus Kenia und dem Vorsitzenden Santiago Canton aus Argentinien Mitglied der internationalen Untersuchungskommission gewesen. Besonders alarmierend, unterstrich sie, sei das Zielen auf Kinder und Menschen mit Behinderungen. Insgesamt 122 Menschen im Ergebnis der Verletzungen die Amputation eines Gliedes. Zwanzig davon waren Kinder, die ein Leben lang verstümmelt bleiben.
In dem Bericht wird auch darauf eingegangen, dass die israelische Seite für ihr Vorgehen gegen die Gaza-Proteste das "Recht auf Selbstverteidigung" anführt. Doch auch dann stellten absichtliche scharfe Schüsse auf Zivilisten, die nicht direkt an Feindseligkeiten beteiligt sind, ein Kriegsverbrechen dar, wird dazu festgestellt. Israelische Soldaten hätten aber im Verlauf ihrer Reaktionen auf die Demonstrationen Zivilisten getötet und verwundet, "die weder direkt an Feindseligkeiten beteiligt waren noch eine unmittelbare Gefahr darstellten".
Auszüge aus dem Bericht der Untersuchungskommission
aus dem Bericht, eigene Übersetzung |
Ebenso wurde in dem Bericht auf die israelische Behauptung reagiert, dass es sich bei den Protesten am Grenzzaun um "versteckte terroristische Aktivitäten" von bewaffneten palästinensischen Milizen handle, die von der fundamental-islamistischen Hamas organisiert seien, die im Gazastreifen die Macht ausübt. Die Untersuchungskommission stellte dazu aber im Ergebnis ihrer detaillierten Untersuchungen fest, dass die Demonstrationen "ziviler Natur mit klar erklärten politischen Zielen" waren. Trotz einiger dabei von Demonstranten begangenen Gewaltakte seien die Demonstrationen "keine Kämpfe oder militärische Kampagnen" gewesen. Auch wenn einige Demonstrationsteilnehmer, wie die Kommission feststellte, Mitglieder organisierter bewaffneter Milizen waren, seien andere einfach Mitglieder politischer Parteien gewesen. Das internationale Recht verbiete aber die Anwendung von Gewalt gegen eine Person allein wegen einer gegenwärtigen oder angeblichen Zugehörigkeit zu einer Gruppe statt ihres tatsächlichen Verhaltens.
Die Kommission ruft Israel auf, die Blockade zu beenden. Die Luft-, Land- und Seeblockade besteht seit mehr als zehn Jahren und wird von Ägypten mitgetragen. Beide Staaten begründen dies mit Sicherheitsinteressen. Israel, die EU und die USA betrachten die im Gaza regierende Hamas als Terrororganisation. Der Gazastreifen ist nicht viel größer als der Stadtstaat Bremen, aber dort leben rund zwei Millionen Menschen unter schwierigsten Bedingungen.
Die israelische Regierung hatte jede Zusammenarbeit mit der internationalen Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrates abgelehnt und ihr den Zutritt nach Israel und auch in die besetzten Palästinensergebiete verweigert. Dennoch hat die Kommission, wie in ihrem Bericht vermerkt wird, insgesamt 325 Interviews mit Opfern und Augenzeugen geführt und zahlreiche Quellen in mehr als 8.000 Dokumenten ausgewertet. Dazu gehörte auch die Auswertung von Veröffentlichungen in den "sozialen Medien" und zahlreiche Videos über einzelne Vorgänge einschließlich von per Drohnen aufgenommenem Filmmaterial. In dem Bericht werden teilweise lange Listen mit Namen von einzelnen Personen aufgeführt, die getötet oder verwundet worden waren, deren Schicksal im Einzelfall im Lauf der Untersuchung der Kommission genau aufzuklären versucht wurde.
txt: G. Polikeit
foto oben: Der 11jährige Abdulrahman Nofal wurde am 13. April 2018 von israelischen Scharfschützen mit explosiver Munition so schwer verletzt, dass sein Bein amputiert werden musste.
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