Überlegungen von Conrad Schuhler
Dass die Implosion des "realen Sozialismus" nicht das "Ende der Geschichte" einläutete, ist mittlerweile auch den professoralen Ideologen des Kapitalismus aufgegangen. Herfried Münkler spricht von einer "Pentarchie" in der Weltordnung, einem Fünfer-Direktorium bestehend aus USA, China, Russland, Europa und Indien, von denen jeder mit einem Höchsteinsatz von Wirtschaftsleistung, Ideologie und Hochrüstung um den größten Einfluss bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen kämpfen müsse, wolle er seine Stellung behaupten oder verbessern. In der Logik dieser von Trump und seinesgleichen betriebenen Strategie liegt der große Krieg.
In seiner 11. Feuerbach-These schreibt Marx: "Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern."
Nie war die Maxime dringender als heute. Die rasante Zerstörung der Umwelt durch den kapitalistischen Wahn von Wachstum und Profit rückt den finalen irdischen Schlusspunkt näher. Wenn auch so allmählich, dass der politische Druck in Richtung "Green New Deal" nachgelassen hat, Umwelt- und Klimaschutz in den kapitalistischen Metropolen wieder kleingeschrieben werden. Die von Trump ausgerufene Strategie des möglichst hohen nationalen Vorteils bei allen internationalen "deals" lässt den Vorhang vor der menschlichen Geschichte womöglich sehr viel früher fallen. Die totale Verantwortungslosigkeit gepaart mit dem blankem Irrsinn des US-Präsidenten und seiner High-Tech-Milliardärsriege machen die Gefahr eines Nuklearkriegs akut.
Welche Rolle kann bei dieser "Veränderung der Welt" der Marxismus spielen?
Analysiert er den Kapitalismus unserer Epoche richtig? Ist die Feststellung des "Kommunistischen Manifests" hilfreich, wonach die Haltung der Kommunisten in einem Wort zusammenzufassen wäre: "Aufhebung des Privateigentums" an Produktionsmitteln? Erfasst er die Momente einer möglichen und notwendigen Veränderung, wenn er verkündet: der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung ist der "Klassenkampf"? Ist also wirklich der Kapitalismus die Ursache der schwerwiegenden Probleme unserer Zeit? Und wird dieser Kapitalismus durch den Kampf der Arbeiterklasse beseitigt und mit ihm die Existenzprobleme der Menschheit und der Natur?
Ich will diesen Fragen in folgenden Schritten näherkommen:
1) Der Marxismus des Karl Marx:
- Dialektischer Materialismus: die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie unter gesellschaftlichen Bedingungen, die sie vorfinden.
- Klassenkampf: der Motor der Geschichte ist der Kampf zwischen der herrschenden Klasse und der oder denen, auf die sie ihre Ausbeutung stützen.
- Klassen im Kapitalismus: die Besitzer der Produktionsmittel und solche, die, da sie keine Produktionsmittel besitzen, ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.
- Ausbeutung: die Besitzer der Produktionsmittel bezahlen die Arbeiterklasse unter dem Wert, den die von ihr hergestellten Produkte darstellen. Der neue Wert ist höher als der Arbeitslohn und der Wert der eingesetzten Kapitalmittel. Es entsteht Mehrwert, Profit, ohne den es keine kapitalistische Produktion gäbe.
- Industrieproletariat: wird durch die Entwicklung der Produktivkräfte und Infrastruktur zusammengeschweißt , an Organisation und Bewusstsein immer kollektiver und solidarischer und schließlich zum "Totengräber" des Kapitalismus.
- Die Kapitalistenklasse muss gewaltsam von der Macht entfernt werden. Die Pariser Kommune (1870) hat gezeigt, dass das Kapital eher mit dem eines anderen Landes gegen die eigene Bevölkerung zusammengeht, als die eigene Arbeiterregierung zu unterstützen.
- Der Arbeiterstaat muss sich auf der Klasse ergebene Beamte stützen, sie kontrollieren und in kurzen Abständen neu ins Amt berufen; es darf keine Herrschaftsklasse der Staatsbürokraten entstehen.
- Beim revolutionären Übergang kann es keine Kooperation mit Teilen der Kapitalistenklasse geben, in der ersten Phase der Arbeitermacht sind Zwangsmaßnahmen unvermeidlich.
- Dass die Arbeiterklasse neue Formen der solidarischen Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln muss, bezieht sich auf Westeuropa. In den anderen Regionen mag der Rückgriff auf dort historisch vorhandene eigene Formen möglich und nützlich sein (Marx-Briefe an Vera Sassulitsch)
2) Offene Fragen bei Marx
- Zergliedert die technologische Entwicklung die Arbeiterklasse nicht eher in immer mehr durch Ausbildung, Stellung in der Betriebshierarchie, Einkommen etc- voneinander getrennte Teile, als dass sie zusammenwächst? Verliert sie allein dadurch nicht die Potenz, dem Kapitalismus der Totengräber zu sein? Wären die revolutionären Kräfte nicht angewiesen auf ein Zusammengehen mit reformbereiten Teilen der herrschenden Klasse? Sind Teile der Klasse nicht offen für eine antikapitalistische Perspektive, da der Kapitalismus heute nicht nur die Arbeiterklasse malträtiert, sondern die ganze Menschheit mit Umweltzerstörung und Nuklearkrieg bedroht?
- Marx hat die Rolle der Frauen bei der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus nur am Rande behandelt, überhaupt die ökonomische Rolle des Patriarchats zu gering gewichtet. Dieser Schwachpunkt der marxistischen Theorie wurde von marxistischen Feministinnen wie Silvia Federici gründlich aufgehoben. Frauen gehören wegen ihrer zusätzlichen Benachteiligungen in Familie, Beruf und Arbeitslohn in die erste Reihe der kämpfenden Klasse, auch in den Führungspositionen der Bewegung.
- Marx hat die Rolle der Paupers, der Armen falsch eingeschätzt. Er sieht zwar die Unfähigkeit des Kapitalismus, viele der von ihm Ausgebeuteten nicht mehr sozial und biologisch "ernähren" zu können, aber er verachtet diese Menschen als "Lumpenproletariat", die sich leicht von der herrschenden Klasse missbrauchen, kaufen lassen. Heute fallen sowohl in den USA wie in Deutschland etwa ein Fünftel der Bevölkerung in diese Rubrik, und sie werden mehr. Wären sie nicht als Opfer und Mitstreiter in den Reihen der kämpfenden Klasse willkommen zu heißen, anstatt sie als "Lumpen" zu schmähen?
- Marx hat die kolonisierten Völker als vom Kapital speziell ausgebeutet analysiert, über das Verhältnis von unterdrückten Völkern und der unterdrückten Arbeiterklasse in den Industriestaaten aber wenig geforscht. Der Kapitalismus sei dabei, die ganze Welt nach seinem Ebenbilde, dem der entwickelten kapitalistischen Länder, zu formen.
Die speziellen Bedingungen der kolonialen und postkolonialen Ausbeutung hat er kaum untersucht.
Dies hat später die kommunistische Weltbewegung unternommen und die "unterdrückten Völker" als zweiten Teil neben die "Arbeiter aller Länder" im potentiellen internationalen revolutionären Subjekt gestellt.
Heute stellt sich die zusätzliche Frage, ob nicht die Nationen, die Staaten des Globalen Südens mitzuzählen sind, da ihr Streben nach Autonomie vom Diktat des West-Kapitalismus die antikapitalistische Kraft in der Weltordnung stärker werden lässt. Oder bildet sich ein global strukturierter Kapitalismus heraus, in dessen verschiedenen Polen sich die Klasse der "Super-Reichen" international durchgesetzt hat? - Marx hat den Kapitalismus als Gesamtsystem gesehen, in dem er die Kriegsgefahr der nationalen Systeme im Wettbewerb um die höchsten Profite und besten Kolonien benennt. Deren Bedingungen und Probleme wurden später von Rosa Luxemburg, Lenin und vielen anderen Marxisten systematisch und kontrovers analysiert. Marx selbst konnte die beabsichtigte Studie über die "Weltordnung" nicht mehr durchführen.
Wenn es so wäre, dass Autonomie für den Globalen Süden den globalen Kapitalismus daran hindern würde, sein Überschuss-Problem durch Kapitalexport in "billigere" Länder zu entschärfen, dann würde sich der Gegensatz Reiche Welt/Arme Welt als Hauptwiderspruch der Epoche herausstellen. - Marx hat weder die soziale Schichtung der Arbeiterklasse thematisiert noch gar die der Kapitalistenklasse. Von Massenmigrationen wie heute, da über 120 Millionen Menschen auf der Flucht vor Armut, Kriegen und Umweltkatastrophen sind, konnte er nichts ahnen. Wie können wir die Solidarität der "Verdammten dieser Erde", wie sie sich in den in Migranten darstellen, mit unseren Armen und Paupers befördern?
- Auch die Kapitalistenklasse verändert sich. Heute erleben wir die Herausbildung einer Milliardärsklasse, die mit ihren Interessenvertretern den politischen und medialen Raum beherrschen.
Eröffnet dies die Möglichkeit zu politischen Allianzen zwischen der Arbeiterbewegung – wo ist die? – und dem Teil der Kapitalisten, die andere Interessen und Werte haben als die Garde der reichsten Milliardäre? Dies zweite hoffen Theoretiker der Rosa-Luxemburg-Stiftung wie Klein und Brie.
Es bleibt die Frage aller Fragen: Hat der Marxismus die Welt nur verschieden, und möglicherweise weitgehend richtig, interpretiert, hat aber nicht vermocht, sie zu verändern und wird diese Fähigkeit auch nicht erlangen?
Oder, positiv formiert: Wie kann er sie erlangen?
Foto oben: Wandgemälde von Diego Rivera im Palacio Nacional, Mexico Ciudad | foto: lm
siehe auch
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