13.06.2023: Während die Justizreform weithin als zentraler Angriff auf die Demokratie angesehen wird, ist es von größter Bedeutung zu zeigen, wie sie direkt mit den zunehmenden Angriffen auf Palästinenser verbunden ist. Von Haggai Matar:
Seit ihrem Amtsantritt vor fünf Monaten hat die sechste Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu drei Hauptphasen durchlaufen.
Die erste war die Reform des Justizwesens, die das politische Leben in Israel von Januar bis April beherrschte. Der beispiellose Widerstand der so genannten "pro-demokratischen" Protestbewegung, der in Streiks gipfelte, die das Land zum völligen Stillstand brachten, zwang Netanjahu zu einer Pause und zur Aufnahme von Verhandlungen mit der Opposition, von denen noch unklar ist, wohin sie genau führen werden.
Die zweite Phase dauerte von April bis fast in den Mai hinein und konzentrierte sich auf die Verabschiedung des Zweijahreshaushalts, der - da er sowohl den Siedlern als auch den jüdisch-fundamentalistischen Haredi-Parteien erheblich mehr Mittel zur Verfügung stellt - die Stabilität der Regierung für die kommenden zwei Jahre so gut wie garantiert.
In den letzten Wochen haben wir den Beginn der dritten Phase erlebt: die Konzentration auf die Verstärkung der Annexion, die zunehmende Gewalt gegen Palästinenser und die Niederschlagung jeglichen Widerstands - Themen, die die Existenzgrundlage dieser Regierung bilden.
Den Auftakt zu dieser Phase bildete das Siedlerpogrom in Huwara, das von hochrangigen Regierungsvertretern angezettelt und unterstützt wurde (siehe kommunisten.de: "Israels Finanzminister: 'Dorf Huwara muss ausradiert werden'"), das Versprechen an den ultrarechten-kahanistischen Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir [1], eine neue Miliz unter seiner direkten Kontrolle einzurichten, die Palästinenser und Linke bekämpfen soll, sowie ein Angriff auf den Gazastreifen, bei dem Dutzende von Palästinensern in dem belagerten Gebiet getötet wurden.
Die letzten Wochen haben gezeigt, wie es aussehen wird, wenn die Regierung ihr Augenmerk wieder verstärkt auf die Palästinenser richtet. Hier ist nur ein Auszug aus der Liste der jüngsten Entwicklungen:
Finanzminister Betalel Smotrich, der im Verteidigungsministerium auch für zivile Angelegenheiten im besetzten Westjordanland zuständig ist, kündigte Pläne an, die Zahl der Siedler in den besetzten Gebieten innerhalb von zwei Jahren zu verdoppeln. Die Armee hob einen Befehl auf, der die Siedler daran hinderte, das Gebiet um Homesh zu betreten - eine israelische Siedlung, die 2005 geräumt wurde, in die die Siedler aber im Laufe der Jahre allmählich zurückkehrten und die auf Land liegt, das Palästinensern gehört. So wird der Wiederaufbau von Homesh befördert, der sogar nach israelischem Recht illegal ist.
In der Zwischenzeit sind die Angriffe der Siedler auf palästinensische Dörfer eskaliert und haben sich fast schon normalisiert. Die Angreifer, die oft von der Armee unterstützt oder zumindest nicht daran gehindert werden, fackeln regelmäßig Häuser und Fahrzeuge ab und setzen manchmal scharfe Munition ein. Allein in den letzten Wochen gab es solche Angriffe in Burqa, Jalud und Ein Samia - der letzte veranlasste die palästinensischen Bewohner, ihr eigenes Dorf abzureißen und zu fliehen.
Mohammed, 2 Jahre alt, von israelischen Soldaten erschossenAm 1. Juni wurde der zweijährige Mohammed al-Tamimi in der Nähe des Dorfes Nabi Saleh im besetzten Westjordanland durch Schüsse tödlich am Kopf verletzt. Zunächst hieß es, der Junge sei von Kugeln getroffen worden, die ein Palästinenser in Richtung einer israelischen Siedlung abgefeuert hatte. Doch dann mussten die israelischen Militärbehörden einräumen, dass es israelische Scharfschützen waren, die das Kind töteten. Nach diesem Eingeständnis erklärte die Armee, dass sie "es bedauert, dass Unbeteiligte zu Schaden gekommen sind". Die israelische Armee erklärte, sie habe eine Untersuchung eingeleitet, aber nur in seltenen Fällen erhebt die Militärstaatsanwaltschaft Anklage gegen Soldaten, die für die Tötung unschuldiger palästinensischer Zivilisten verantwortlich sind. eingefügt von kommunisten.de |
In der Knesset wurde in erster Lesung ein Gesetzentwurf verabschiedet, der das Hissen der palästinensischen Flagge verbietet. Ein weiterer Gesetzentwurf, der die Wiedereinführung der Aufsicht des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet über arabische Lehrer und Schulleiter vorsieht, wurde ebenfalls in erster Lesung verabschiedet.
Der Ministerausschuss für Gesetzgebung, der über die Position der Koalition zu verschiedenen Gesetzesvorlagen in der Knesset entscheidet, diskutierte und unterstützt drei neue Vorschläge: Der erste Vorschlag sieht eine 65-prozentige Steuer auf Spenden aus dem Ausland an israelische gemeinnützige Organisationen vor, die für viele israelische Menschenrechtsgruppen die finanzielle Existenzgrundlage darstellen (auch +972 erhält einen Teil dieser Gelder, die etwa 1 Prozent unseres Jahreshaushalts ausmachen). Der zweite zielt darauf ab, jüdische "Kulturstätten" im Westjordanland an Israel anzugliedern. Der dritte sieht vor, dass palästinensische Bürger, die israelische Universitäten und Hochschulen besuchen, von allen akademischen Einrichtungen ausgeschlossen werden, wenn sie eine palästinensische Flagge hissen oder Unterstützung für den bewaffneten palästinensischen Widerstand zeigen. Alle drei Vorschläge wurden nach intensivem Druck seitens der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und der israelischen Universitäten vorerst auf Eis gelegt.
Und schließlich erinnerte uns Justizminister Yariv Levin in nur einem Satz daran, dass seine und die Pläne der Religiösen Zionistischen Partei (MK) von Simcha Rothman für eine "Reform" des Justizwesens wenig mit Demokratie und Gleichheit zu tun haben, wie sie gerne behaupten, und alles mit der Festschreibung der jüdischen Vorherrschaft und der ungezügelten Kontrolle durch die Rechte. In der vergangenen Woche wurde Levin mit den Worten zitiert, dass "Araber Wohnungen in jüdischen Städten kaufen" und dass wir "Richter am Obersten Gerichtshof brauchen, die das verstehen". Damit signalisierte Levin den gegenwärtigen und zukünftigen Richtern, dass sie bereit sein sollten, die notwendigen Maßnahmen zur Unterstützung der ethnischen Trennung von Juden und Palästinensern zu ergreifen.
Natürlich sind viele dieser Maßnahmen nicht völlig neu oder einzigartig für die rechtsextreme Koalition. Unter der so genannten "Regierung des Wandels" von Naftali Bennett und Yair Lapid kam es zu vermehrten Tötungen von Palästinensern, Abrissen von Häusern, Siedlerpogromen in Dörfern und dem Verbot von palästinensischen Menschenrechtsgruppen. Diese Regierung stieß auf weniger Widerstand - sowohl intern als auch weltweit - als die jetzige, die ihre Ziele und Maßnahmen viel offener darlegt. Um wirklich zu verstehen, wie wir an diesen Punkt gelangt sind, müssen wir unseren Blickwinkel über die Extremisten, die derzeit am Ruder sind, hinaus erweitern.
Dennoch ist das, was wir jetzt erleben, nicht einfach nur mehr vom Gleichen, sondern eine bedeutende historische Entwicklung. Die israelische Öffentlichkeit und ein Großteil der internationalen Mainstream-Medien befassen sich immer noch hauptsächlich mit der pausierten Justizreform und versuchen, sie als "Angriff auf die israelische Demokratie" zu bezeichnen, während sie die Beweggründe der Initiatoren und den weiteren Hintergrund ignorieren. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, die Zusammenhänge zwischen dieser Agenda und den Angriffen auf die Palästinenser an allen Fronten zu erkennen. Kein Kampf und kein internationaler Druck werden zu einer Demokratie führen, wenn nicht die Ursachen für diese Umgestaltung und den Kontext der jahrzehntelangen Apartheid angegangen werden.
Haggai Matar ist ein preisgekrönter israelischer Journalist und politischer Aktivist. Er ist Geschäftsführer des +972 Magazine.
Der Artikel erschien am 3. Juni 2023 bei +972 Magazine
https://www.972mag.com/israel-dangerous-phase/
eigene Übersetzung
Anmerkungen kommunisten.de:
[1] Bei Itamar Ben-Gvir handelt es sich um einen mehrfach vorbestraften Faschisten. Er wurde mehrfach wegen rassistischer Hassrede, Behinderung eines Polizeibeamten und Unterstützung einer terroristischen Organisation verurteilt. Die israelische Armee hielt es angesichts seiner Verurteilungen für zu gefährlich, ihn mit achtzehn Jahren einzuziehen.
siehe "Wird Israel zum Gottesstaat?"
- Israels biometrische Apartheid
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- Israel: Die Todesstrafe zur Festigung der Apartheid
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