08.06.2021: Europäische Union legt Verhandlungslinie für WTO fest und bleibt das Haupthindernis für ein Moratorium auf Impfstoffpatente ++ mit neuen Anreizen und Finanzmitteln soll die Produktion gesteigert und Big-Pharma zur freiwilligen Vergabe von Lizenzen motiviert werden ++ 290 Lobbyist*innen und 36 Millionen jährlich: Big Pharma führt einen erbitterten Lobbykampf, um ihre Monopol-Patentrechte für COVID-19-Impfstoffe und -Behandlungen zu schützen.
Im Vorfeld des Treffens der Welthandelsorganisation WTO (8. / 9. Juni) hat die EU-Kommission ihre Position zu den Verhandlungen über die befristete Freigabe der Patente auf Corona-Impfstoffe festgelegt.
Die EU ist "nicht davon überzeugt", dass eine breite Ausnahmeregelung für Patente, wie sie von Indien und Südafrika seit letztem Oktober vorgeschlagen wird, "die beste Lösung für die unmittelbare Zukunft" ist, denn für Brüssel ist es wichtig, "ein Schutzniveau aufrechtzuerhalten, das für Investitionen in Innovationen" in der Zukunft notwendig ist, um mit neuen Varianten und neuen Behandlungen fertig zu werden.
Im Oktober vergangenen Jahres haben Indien und Südafrika bei der Welthandelsorganisation WTO einen Antrag für eine befristete Ausnahmeregelung vom sogenannten TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) eingereicht, um unter anderem eine Freigabe der Patente der COVID-Impfstoffe und für Medikamente und diagnostische Tests zu erreichen. Sie werden inzwischen von rund 100 Ländern unterstützt, zudem von Hunderten Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Human Rights Watch oder Amnesty International. Auch die UN-Menschenrechtskommission, die Unesco und die Weltgesundheitsorganisation WHO stehen hinter dem Vorhaben.
Ziel ist es, schneller mehr Impfstoff und andere in der Pandemie benötigte Materialien wie Tests oder Beatmungsgeräte zu produzieren, damit auch ärmere Länder besseren Zugang dazu bekommen. Denn die Kluft zwischen reichen und armen Ländern besteht auch bei den Impfungen und der Behandlung von COVID-19: Länder mit hohem Einkommen, in denen 16% der Weltbevölkerung leben, haben 37% der zwei Milliarden Impf-Dosen erhalten, die ärmsten nur 0,3%. In Afrika wurden 2,5 Dosen pro 100 Einwohner verabreicht, in den USA waren es 87, in der EU 47.
Bisher gab es zehn Arbeitstreffen der WTO zu diesem Thema. Im TRIPS-Abkommen der WTO ist geregelt, dass es in globalen Gesundheitskrisen Ausnahmen beim Schutz des geistigen Eigentums geben darf. Doch viele große Industriestaaten mit Pharmafirmen wehren sich dagegen, diese Regelung in der Corona-Pandemie anzuwenden. Mit den USA ist nun überraschend der erste große Industriestaat zu der Gruppe hinzugestoßen, die für eine Aufhebung der Patente auf COVID-Impfstoff eintreten. (siehe kommunisten.de: "Kein formeller Vorschlag der USA bei WTO-Verhandlungen")
EU: Anreize für Pharma-Industrie, damit sie das tut, was sie bisher verweigert hat: Vergabe von freiwilligen Lizenzen
Anstelle einer Freigabe der Patente plädiert die EU für einen multilateraler Aktionsplan für den Handel und die Beseitigung von Exporthemmnissen, um die Produktion zu steigern und einen allgemeinen und fairen Zugang zu Impfstoffen gewährleisten. Die EU fordert die internationale Gemeinschaft auf, im Namen einer "starken multilateralen Handelsreaktion" auf die Pandemie neue Anreize und Finanzmittel für Unternehmen bereitzustellen. So soll die Pharma-Industrie ermutigt werden, die Produktion zu steigern, freiwillig Lizenzen zu vergeben und darauf zu achten, dass die Preise für arme Länder erschwinglich sind.
Für Brüssel sind "freiwillige Lizenzen die effektivsten Instrumente, um die Intensivierung der Produktion und den Austausch von Know-how zu erleichtern". Die Pharmakonzerne Pfizer, Moderna und J&J hätten sich bereits verpflichtet, in diesem Jahr 1,3 Milliarden Dosen zum Selbstkostenpreis an Länder mit niedrigem Einkommen und zu einem moderaten Preis für Länder mit mittlerem Einkommen zu liefern, heißt es im EU-Kommuniqué.
Erst wenn diese Maßnahmen nicht wirken, könnten nach Ansicht der EU-Kommission Zwangslizenzen als ″legitimes Mittel im Rahmen einer Pandemie″ in Betracht gezogen werden - aber streng im Rahmen des TRIPS-Abkommens der WTO. Als Alternative zu der von Indien und Südafrika vorgeschlagenen Aussetzung einiger Artikel des TRIPS-Abkommens führt Brüssel als neue Vorschläge Klauseln ein, die bereits seit 25 Jahren im TRIPS-Vertrag stehen.
Ein weiterer Trick der EU: Zwangslizenzen gelten nur für Patente und sind eine völlig unzureichende Formel, wenn man bedenkt, dass für die Herstellung von Impfstoffen auch andere geistige Eigentumsrechte in Anspruch genommen werden müssen: Know-how, Betriebsgeheimnisse, Verfahren und klinische Daten. In der WTO argumentiert die EU, dass Vorsicht geboten sei, weil der Prozess der Herstellung von Impfstoffen komplexer sei als der von Medikamenten, verhindert dann aber den Zugang zu dem Wissen, das die Unternehmen, die es in vielen Teilen der Welt gibt, benötigen, um mit der Produktion von Impfstoffen beginnen zu können.
Expert*innen gehen davon aus, dass es möglich ist, in weniger als einem Jahr regionale Hubs für die Produktion von 8 Milliarden mRNA-Impfstoffen zu entwickeln. Der frühere Direktor von Moderna, Suhaib Siddiqi, ist überzeugt, dass moderne Produktionsanlagen auch in armen Ländern innerhalb von drei bis vier Monaten mRNA-Impfstoffe produzieren können. Natürlich kann nicht jedes einzelne Entwicklungsland Impfstoff produzieren. Es gibt aber eine Reihe von Ländern, die das können. Südafrika und Indien etwa verfügten beide über eine entwickelte Pharmaindustrie. Nicht umsonst wird Indien als die ″Apotheke der Welt″ bezeichnet. Indiens Serum Institute of India ist der weltweit größte Impfstoffhersteller und könnte in relativ kurzer Zeit einen eigenen Impfstoff auf mRNA-Basis herstellen, wenn es das Know-how und die notwendige Unterstützung erhalten würde.
Dies würde es ermöglichen, die im heutigen Szenario vorherrschende Ökonomie der Knappheit, die so vorteilhaft für die Dominanz und die Kassen von Big Pharma ist, zu beseitigen.
″Denn die Freigabe des Patentschutzes würde deren Marktmacht massiv reduzieren. Sie würde zu mehr Wettbewerb und niedrigeren Preisen führen, selbst in den reichen Ländern. In anderen Worten: Die wirkliche Sorge vieler gilt den Profiten der Pharmakonzerne.″
Marcel Fratzscher, Präsident des DIW [1]
EU bleibt das Haupthindernis für ein Moratorium auf Impfstoffpatente
″Die EU bleibt einem kranken Gesundheitskolonialismus verhaftet.″
Nicoletta Dentico
Mit dieser Position will die EU in die WTO-Ratstagung die Forderung nach Aufhebung der Patente unterlaufen. Denn die Zahl der Länder wächst, die bereit sind, über den von Indien und Südafrika überarbeiteten Text zu verhandeln, wie sich beim informellen Treffen des TRIPS-Rates am 31. Mai mit den USA, Japan, Neuseeland und Großbritannien zeigte. Mit diesem Schachzug will die EU die diplomatischen Vereinbarungen verzögern und alle - Parlamentarier*innen, die Presse und die öffentliche Meinung - verwirren. Ihr Eckpfeiler ist die Aufrechterhaltung des Monopols des geistigen Eigentums.
Lobbykampf von Big-Pharma in Brüssel
″Big Pharma führt derzeit einen erbitterten Lobbykampf, um ihre Monopol-Patentrechte für COVID-19-Impfstoffe und -Behandlungen zu schützen.″
Corporate Europe Observatory [2]
Die starre Haltung der EU gegen das von Indien und Südafrika beantragte Moratorium ist Ergebnis der Arbeit von 290 Lobbyist*innen der Pharmaindustrie. Die Pharmaindustrie investiert mindestens 36 Milliarden Euro pro Jahr, um die Entscheidungen der europäischen Institutionen zu beeinflussen. Dies geht aus einem Dossier des Corporate Europe Observatory CEO hervor, einer Gruppe von Forschern, die den Einfluss großer Unternehmen auf Entscheidungen beobachtet, die in Brüssel von der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament getroffen werden. [2]
Wie CEO angibt, ist dies höchstwahrscheinlich eine Unterschätzung. Tatsächlich aktualisieren nicht alle Unternehmen regelmäßig das "Transparenzregister", also die europäische Datenbank, in der die in der Europäischen Union aktiven Interessengruppen und ihre Finanziers aufgelistet sind. Unter den Unternehmen bzw. Organisationen, die ihrer Transparenzverpflichtung noch nicht nachgekommen sind, finden sich neben Pfizer wichtige Konzerne wie Johnson & Johnson und Abbot. Zudem bleibt beispielsweise die Finanzierung von Think Tanks und Patientenverbänden durch Pharmaunternehmen weitgehend verborgen, da diese Organisationen ihre Finanzierungsquellen nicht angeben müssen.
″Die Öffentlichkeit wird aufgrund dieses Mangels an Transparenz im Dunkeln gelassen, was die Forderungen, Einflussstrategien und die volle Feuerkraft der Big-Pharma-Lobby angeht, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Debatte darüber tobt, wer die Monopolkontrolle über die COVID-19-Patente behalten darf.″ [2]
Anmerkungen:
[1] Marcel Fratzscher, 11. Mai 2021: ″Was für eine Freigabe der Impfstoff-Patente spricht″
https://www.diw.de/de/diw_01.c.817912.de/nachrichten/was_fuer_eine_freigabe_der_impfstoff-patente_spricht.html
[2] Corporate Europe Observatory, 31.05.2021: ″Big Pharma’s lobbying firepower in Brussels: at least €36 million a year (and likely far more)″
https://corporateeurope.org/en/2021/05/big-pharmas-lobbying-firepower-brussels-least-eu36-million-year-and-likely-far-more
"Jeder verdient Schutz vor Covid-19! Kein Profit durch die Pandemie!"Eine breite Koalition aus Gewerkschaften des Gesundheitssektors, NGOs, Gruppen von Aktivist*innen, Studierenden und Gesundheitsexpert*innen haben die Europäische Bürgerinitiative "Jeder verdient Schutz vor Covid-19! Kein Profit durch die Pandemie!" ins Leben gerufen, mit dem Ziel Patente auf COVID19-Impfstoffe und -Medikamente aufzuheben. Gesundheit ist ein globales, öffentliches Gut. Hier geht es zum Text und zum Unterzeichnen: https://noprofitonpandemic.eu/de/
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