23.02.2024: Nach zwei Tagen Anhörung spielt britische Justiz auf Zeit und hofft, dass Assange vorher stirbt ++ Sevim Dagdelen: die Auslieferung von Assange wird "auf politischer Ebene entschieden" ++ 75 Bundestagsabgeordnete der Ampelfraktionen fordern Ende des "politischen Schauprozesses" und sofortige Freilassung von Assange ++ Annalena Baerbock steht jetzt im Fokus ++ IALANA und IPPNW: Bundesregierung muss bei US-Präsident Biden und bei der britischen Regierung die Beendigung des Strafverfahrens gegen Assange fordern.
Nach zwei Tagen Anhörungen im Fall Julian Assange verkündeten die Richter: "Wir behalten uns unsere Entscheidung vor" und werden uns an die Parteien wenden, wenn wir weitere Informationen benötigen.
Der mit massiven Eisenstangen bewährte Käfig, der im Gerichtssaal für Assange bereitgehalten wurde, blieb am Dienstag und Mittwoch leer. Julian Assange konnte angesichts seines schlechten Gesundheitszustands an der Anhörung nicht teilnehmen. Sein Gesundheitszustand sei "'heikel und verschlechtert sich zusehends", sagt sein Bruder Gebriel Shipton.
Unklar ist, bis wann der High Court in London bekannt gibt, ob Julian Assange gegen die 2022 gerichtlich zugelassene Auslieferung und den von der damaligen britischen Innenministerin Priti Patel im Sommer 2022 unterzeichneten Auslieferungsbefehl vor britischen Gerichten in die Berufung gehen kann. Wird die Berufungsmöglichkeit verweigert, rückt eine Auslieferung von Assange in die USA, wo ihm 175 Jahre Gefängnis drohen, gefährlich nahe.
"Es geht um Leben und Tod."
Das heißt, Julian Assange wird erst einmal nicht an die USA ausgeliefert. Er bleibt im britischen Guantanamo, dem Hochsicherheitsgefängnis von Belmarsh, inhaftiert. Die Gefängniszelle, in der Julian Assange seit 2019 inhaftiert ist, ist zwei mal drei Meter groß. Hier ist er 21 Stunden am Tag allein eingesperrt. Die britische Justiz spielt auf Zeit und setzt darauf, dass sie um eine Auslieferung an die USA umhin kommt, weil Assange aufgrund dieser unmenschlichen Haftbedingungen vorher stirbt.
"Julian sitzt seit fast fünf Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh ein. Seine physische und psychische Gesundheit hat stark abgebaut", klagt seine Ehefrau Stella Assange. "Es geht um Leben und Tod."
Dass die CIA beim Ableben von Assange nachhelfen wollte, darauf hat die Verteidigung von Assange am Dienstag noch einmal hingewiesen. Sie legten noch einmal dar, dass die CIA plante, Assange zu kidnappen oder zu töten. In dem entsprechenden Medienbericht, der 2021 von mehreren investigativen Journalisten auf dem Portal Yahoo News veröffentlicht wurde, werden zahlreiche Quellen für diesen Anschlag genannt.
Am Mittwoch hatten die Vertreter für die US-Seite das Wort. Ihr Ziel: Eine Berufung vor dem High Court gegen die 2022 erfolgte Absegnung des US-Auslieferungsantrags verhindern. Anwalt Clair Dobbin wiederholte die aus früheren Anhörungen bekannten Wege der Anklage gegen den WikiLeaks-Gründer, die 2010 vom Pentagon erhoben wurde und auf der der Auslieferungsantrag der USA beruht. Er betuerte erneut, dass es sich in keiner Weise um einen politischen Prozess handelt, geschweige denn um eine Vergeltungsmaßnahme der Vereinigten Staaten von Amerika gegen den australischen Journalisten.
Er versuchte dann, die Aufmerksamkeit von den 17 Anklagepunkten abzulenken, die Assange im Rahmen des Spionagegesetzes (von 1917, ein Datum, das alles sagt) zur Last gelegt werden, und konzentrierte sich auf das Hacken eines Regierungscomputers in Zusammenarbeit mit der Whistleblowerin Chelsea Manning (die vom damaligen Präsidenten Obama begnadigt wurde). Dobbins hob auch den Hauptvorwurf hervor - das Leben von Personen, die an den WikiLeaks-Veröffentlichungen beteiligt waren, in Gefahr gebracht zu haben: ein im Wesentlichen unbegründeter Vorwurf, wie der Manning-Prozess bereits gezeigt hat.
Unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit
Die Öffentlichkeit und sogar die Presse war von dem Verfahren weitgehend ausgeschlossen. So wurde auch zwei jW-Redakteurinnen der Zugang trotz ordnungsgemäßer Anmeldung und Befolgung der Gerichtsorder zur Anhörung verwehrt. Wikileaks-Chefredakteur Kristinn Hrafnsson verließ aus Protest gegen die Behinderung der Prozessberichterstattung den Gerichtssaal.
Der Europaabgeordnete Martin Sonneborn, der vor Ort war, berichtet:
"Die Presse hatte übrigens Schwierigkeiten all dem zu folgen, weil der weltbekannte Hightech-Pionier Grobbritannien im kleinsten Saal seines höchsten Gerichts keine zweckmäßige Mikrophontechnik zur Verfügung stellen kann. Stattdessen wurden die rund zwei Dutzend angereisten Journalisten von Gerichtsdienern auf eine Galerie getrieben, von der aus sie einer Übertragung der Verhandlung auf Bildschirmen auf harten Kirchenbänken (ohne Tisch) folgen sollten. Die Köpfe von Richtern und Anwälten waren briefmarkengroß, der Ton wurde zeitweise gar nicht übertragen, dann zum Ausgleich doppelt, und blieb über weite Strecken völlig unverständlich. Das Gericht hatte im Vorfeld angeordnet, dass die 'öffentliche' Verhandlung, die wahrscheinlich entscheidenste für die Pressefreiheit weltweit, selbst online nur von Journalisten verfolgt werden durfte, die sich in England und Wales aufhalten."
Und weiter: "In diesem Verfahren geht es nur an der Oberfläche um Julian Assange. Es geht um Recht, Demokratie, Gesetz und Freiheit. Es geht um Regierungskriminalität und Kriegsverbrechen. Es geht um die Kriminalisierung von Journalismus, die Abschaffung der demokratischen Rechenschaftspflicht und die Zerschlagung bürgerlicher Freiheiten." [1]
"Wenn ein australischer Staatsbürger, der in Europa publiziert, in den Vereinigten Staaten mit einer Gefängnisstrafe rechnen muss, bedeutet das, dass Journalisten in Zukunft nirgendwo mehr sicher sind."
Kristinn Hrafnsson, der Chefredakteur von WikiLeaks
Mit Julian Assange auf der Anklagebank sitzt der investigative Journalismus. Assange drohen in den USA bis zu 175 Jahre Haft, weil er seiner Arbeit als Journalist nachgegangen ist und u.a. US-Kriegsverbrechen, Korruption und Staatskriminalität nicht nur der USA, sondern vieler mächtiger Regierungen und Konzerne öffentlich gemacht hat. Weltweit für Entsetzen sorgte das von WikiLeaks publik gemachte Video "Collateral Murder", das die Ermordung von zwölf irakischen Zivilisten, darunter zwei Reuters-Journalisten, durch einen Kampfhubschrauber der US-Armee dokumentiert.
Kristinn Hrafnsson, der Chefredakteur von WikiLeaks, sagte, der Fall werde einen Präzedenzfall schaffen, der "ernste Auswirkungen" auf die Pressefreiheit in der ganzen Welt haben werde.
"Die Wirkung, die dieser Fall haben wird, darf nicht unterschätzt werden", sagte er. "Wenn ein australischer Staatsbürger, der in Europa publiziert, in den Vereinigten Staaten mit einer Gefängnisstrafe rechnen muss, bedeutet das, dass Journalisten in Zukunft nirgendwo mehr sicher sind."
Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Gruppe BSW), die zu dem Prozess nach London reiste, äußerte:
"Sollten die USA mit ihrem Auslieferungsgesuch Erfolg haben, wäre es ihnen gelungen, investigativen Journalismus in Spionage umzudefinieren und zu kriminalisieren. Die Auslieferung von Assange wäre ein fataler Schlag gegen die Presse- und Meinungsfreiheit. Ein solcher Präzedenzfall wäre dramatisch, insbesondere auch für Journalisten außerhalb der Vereinigten Staaten. Wohlgemerkt: Julian Assange ist australischer Staatsbürger, der für Veröffentlichungen in einem europäischen Land in den USA juristisch belangt werden soll."
Dagdelen bekräftigte, dass der Kampf für die Freiheit von Assange weitergeht.
"Die weitere Inhaftierung von Julian Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, einem britischen Guantanamo, allein wegen der Veröffentlichung von US-Kriegsverbrechen ist eine Schande für ganz Europa.
Es ist in der Hand von US-Präsident Joe Biden, die Verfolgung des Journalisten zu beenden. Wir jedenfalls werden nicht aufgeben. Wir kämpfen weiter für die Freiheit von Julian Assange, der Presse und unsere Freiheit."
Auslieferung eine politische Entscheidung
Letztendlich werde die Auslieferung von Julian Assange "auf politischer Ebene entschieden", so Dagdelen.
Doch bisher setzt die US-Regierung unter Präsident Biden unnachgiebig die Linie von Trump fort und fordert die Auslieferung -ungeachtet breiter internationaler Proteste von Menschenrechtsgruppen und Journalistenorganisationen sowie sogar der australischen Regierung.
75 Abgeordnete der Ampelfraktionen fordern Ende des "politischen Schauprozesses"
Zuletzt, einen Tag vor Beginn der Verhandlung in London, haben 75 Bundestagsabgeordnete der Ampelfraktionen in einem Appell ein Ende des "politischen Schauprozesses" gefordert und die sofortige Freilassung von Assange verlangt – und das mit sehr deutlichen Worten. "Der politische Schauprozess gegen Assange muss sofort beendet werden“, heißt es in dem Schreiben der Abgeordneten. "Ihm steht ein faires Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu." Solange es von dort keine abschließende Entscheidung gebe, dürfe er keinesfalls an die USA ausgeliefert werden. Koordiniert wurde der Appell von dem Grünen-Abgeordneten Max Lucks, Frank Schwabe von der SPD und dem FDP-Abgeordneten Ulrich Lechte.
Annalena Baerbock (Grüne) steht jetzt im Fokus
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) steht jetzt besonders im Fokus, forderte sie doch noch kurz vor ihrem Amtsantritt die sofortige Freilassung Assanges und führte dafür "schwerwiegenden Verstößen gegen das Verbot von Folter und gegen das Recht auf ein faires Verfahren" an.
"Aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen grundlegende Freiheitsrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention im Umgang mit Julian Assange – allen voran gegen das Verbot von Folter (Art. 3), gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5), gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6) und gegen das Recht, keine Strafe ohne Gesetz zu erhalten (Art. 7) – schließen wir uns der Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 27. Januar 2020 sowie dem Appell des UN-Sonderbeauftragten Nils Melzer an und fordern die sofortige Freilassung von Julian Assange."
So lautete die unmissverständliche Antwort von Annalena Baerbock, damals noch Kanzlerkandidatin der Grünen, am 14. September 2021 auf dem Portal Abgeordnetenwatch hinsichtlich der Frage, wie sie zum Fall Julian Assange steht.
Doch schon nur wenige Wochen nach Amtsantritt haben sich die Aussagen Baerbocks zum Fall Assange grundlegend verändert. Aus einer Verteidigerin des Journalisten, die sich als Oppositionspolitikerin mit Verve für Assange einsetzte und der schwarz-roten Bundesregierung "Feigheit" vorhielt, wurde eine zahme Regierungspolitikerin, die schon am 9. Februar 2022 "keinen Anlass (sah), an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und des Vorgehens der britischen Justiz zu zweifeln". (siehe kommunisten.de, 21.6.2022: Britische Innenministerin liefert Julian Assange "ans Messer" - Bundesregierung hält Vertuschen von Kriegsverbrechen für "berechtigtes Sicherheitsinteresse")
Zweieinhalb Jahre später ist bei Annalena Baerbock von ihren früheren Aussagen und einer "wertegeleiteten Außenpolitik" überhaupt nichts mehr übriggeblieben.
Ihre Sprecherin Kathrin Deschauer erklärte auf der Bundespressekonferenz am 21. Februar, "dass wir als Bundesregierung und Außenministerin keine Zweifel an einem in den Vereinigten Staaten jetzt laufenden rechtsstaatlichen Verfahren haben und im Moment keinen Anlass haben, diesen Zweifel zu äußern. [2]
Sevim Dagdelen ist empört:
"Die anhaltende Tatenlosigkeit der Bundesregierung im bisher wichtigsten Fall von Pressefreiheit im 21. Jahrhundert ist skandalös. Die Ampel ist aufgerufen, sich bei der US-Regierung und in Großbritannien mit Nachdruck für ein Ende der Verfolgung des Journalisten und Wikileaks-Gründers Julian Assange einzusetzen, wie dies der Bundestag mit Beschluss vom Juli 2022 fordert. Die Bundesregierung muss sich von den Angriffen der USA und Großbritanniens auf die Pressefreiheit im Fall Julian Assange deutlich distanzieren und sollte dem verfolgten Journalisten als konkrete Geste der Solidarität politisches Asyl anbieten."
Die deutsche Sektion der Internationalen Vereinigung von Juristen gegen Atomwaffen (IALANA) und die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) appellieren in einem gemeinsamen Aufruf:
"Wir fordern die Bundesregierung auf, um der Pressefreiheit willen und zur Rettung des zu Unrecht wegen der Veröffentlichung ihm zugespielter Informationen verfolgten Journalisten Assange in klaren Worten bei US-Präsident Biden und bei der britischen Regierung gegen die drohende Auslieferung zu protestieren und die Beendigung des Strafverfahrens gegen Assange zu fordern."[3]
Fußnoten
[1] https://twitter.com/MartinSonneborn/status/1760440633511076007
[2] https://www.nachdenkseiten.de/?p=111434
[3] https://www.ippnw.de/startseite/artikel/de/julian-assange-droht-jetzt-jeden-tag.html
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