24.11.2023: "Tel Aviv wartete auf die Einnahme des al-Shifa Krankenhauses und der Besetzung des Nordens, bevor es dem Abkommen mit der Hamas zustimmte. Dann wird es den Süden massakrieren" ++ Interview mit dem israelischen Rechtswissenschaftler Neve Gordon.
"Jedes Abkommen, das Gefangene befreit, ist für mich ein Sieg, und zwar für alle Parteien. Aber jeder interpretiert es auf seine Weise. In Israel gibt es diejenigen, die es für ein Zeichen der Schwäche der Hamas halten, und diejenigen, die im Gegenteil meinen, dass die Hamas Tel Aviv zu einem Waffenstillstand gezwungen hat, den sie nicht wollte".
Über das Abkommen zwischen Israel und der Hamas sprach die italienische Zeitung il manifesto mit dem israelischen Rechtswissenschaftler Neve Gordon, Professor für internationales Recht an der Queen Mary University of London.
Frage: Netanjahu hat sich klar ausgedrückt: Das Abkommen beendet den Krieg nicht. Welche Bedeutung sollte diesem Austausch beigemessen werden?
Neve Gordon: Es gibt zwei Diskurse. Der eine ist der europäische, der meint, der Austausch könne zu einem Waffenstillstand und vielleicht zu einer Einigung über den Friedensprozess führen, und der andere ist der jüdische, der innerhalb Israels gilt: Das Abkommen wird vier Tage lang funktionieren, es kann auf zehn verlängert werden, um mehr Geiseln als die geplanten 50 freizulassen, aber nach diesen zehn Tagen werden sie nach Süden marschieren. Die Kämpfe werden nicht aufhören. Manche sehen darin eine mögliche Quelle der Konfrontation zwischen Biden und Netanjahu, aber der israelische Premierminister wird keine Kompromisse eingehen: Das Ende des Krieges ist das Ende seiner Karriere. Netanjahu hat sowohl ein persönliches als auch ein politisches Interesse daran, weiterzumachen.
Frage: Ist Netanjahu unter doppelten Druck geraten? Der Druck von außen, von den USA, und der Druck von innen, von den Familien der Geiseln und einem großen Teil der israelischen Gesellschaft.
Neve Gordon: Die große Mehrheit der israelischen Gesellschaft unterstützt das Abkommen, weil sie die Familien unterstützt, die eine unglaubliche Arbeit bei der Mobilisierung der öffentlichen Meinung geleistet haben, und weil es um die Freilassung von Frauen und Kindern geht. Der Druck, den Biden ausübte, war ebenso groß angesichts der tödlichen Gewalt, die Israel ausübt, und des Todes so vieler palästinensischer Zivilisten, darunter über 5.000 Kinder. Die eigentliche Frage ist, warum die Einigung nicht früher erzielt wurde. Weil Israel zuerst das Shifa-Krankenhaus einnehmen wollte. Erst nachdem es in den nördlichen Gazastreifen eingedrungen war und dort einen Großteil der Besetzung abgeschlossen hatte, akzeptierte es die Vereinbarung. Jetzt glaubt Israel, dass es den Norden so weit unter Kontrolle hat, dass es sich den Austausch leisten kann.
Frage: Ähnliche Waffenstillstände wurden bereits in der Vergangenheit gebrochen. Diesmal steht jedoch die Freilassung von zweihundert Menschen auf dem Spiel. Ist es allen recht, dass der Waffenstillstand hält?
Neve Gordon: Es kann zu Hindernissen kommen: Der Islamische Dschihad könnte eine Rakete abfeuern, oder die israelische Armee könnte dies nutzen, um außergerichtliche Tötungen von palästinensischen Führern vorzunehmen. Aber ich denke, beide Seiten sind an der Vereinbarung interessiert genug, um sie durchzusetzen.
Frage: Am Dienstagabend kündigte die extreme Rechte an, dass sie gegen das Abkommen stimmen werde. Dann gab der religiöse Zionismus von Minister Smotrich nach, und der einzige, der sich dagegen aussprach, war die Jüdische Kraft von Ben Gvir. Welches Gewicht haben die religiösen Nationalisten, die sich in der Offensive befinden, in der Regierungskoalition?
Neve Gordon: Es handelt sich um Parteien mit enormem Einfluss auf die derzeitige Dynamik in Israel. Was sie in diesem Fall erreicht haben, ist die Ablehnung eines langfristigen Waffenstillstands. Höchstens zehn Tage, dann nicht mehr. Selbst Netanjahu ist gegen eine Verlängerung, aber diese Parteien werden sicher dafür sorgen, dass er seine Meinung nicht ändert. Bei der Vereinbarung vom Dienstag mussten sie nachgeben, weil es um entführte Kinder ging. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass diese Kräfte die ethnische Säuberung im Westjordanland unterstützen, sie unterstützen Siedlermilizen. Ben Gvir baut auch Milizen in mehreren israelischen Städten auf. Es ist ihr Einfluss, der das Ausmaß der Unterdrückung garantiert, das wir heute in Israel erleben, wo jede Art von Protest, selbst von nur zehn oder zwanzig Personen, von der Polizei gewaltsam unterdrückt wird. Jede Aktion in den sozialen Medien wird überwacht, palästinensische Bürger werden verhaftet oder verlieren ihren Arbeitsplatz.
Frage: Nachdem wochenlang die Hamas mit dem Islamischen Staat IS verglichen wurde, kommt nun diese Einigung. Wenn mit Isis niemand verhandeln würde, beweist der Austausch, dass man mit Hamas im Gegenteil reden kann? Wird damit eine theoretische Annahme fallen gelassen, die die Zukunft belastet?
Neve Gordon: Er zeigt der Welt, dass die Hamas eine Gruppe ist, mit der man verhandeln kann und mit der man ein Abkommen schließen kann. Sie ist wichtig, weil sie den Diskurs untergräbt, der sie als barbarischen und irrationalen Akteur darstellte. Auf internationaler Ebene gab es viele Versuche, die Palästinenser mit der Hamas zu "verschmelzen", was beispielsweise den ehemaligen britischen Innenminister Braverman zu der Behauptung veranlasste, das Schwenken der palästinensischen Flagge sei gleichbedeutend mit der Unterstützung des Terrorismus und verdiene daher eine Verhaftung. Diese Haltung könnte sich ändern. Auch in Israel nimmt der Völkermorddiskurs zu: Immer mehr Minister und Analysten fordern, dass der Gazastreifen dem Erdboden gleichgemacht werden muss. Diese Art des Eliminierungsdiskurses wurde legitimiert, obwohl er völkermörderisch ist. Vielleicht könnte der Austausch sie untergraben.
Frage: In einem kürzlich erschienenen Artikel erörterten Sie die Bedeutung des "Sieges" aus israelischer Sicht. [Anm. kommunisten.de] Was bedeutet er heute? Die Einnahme von Rafah, wo sich die Hamas-Führung wahrscheinlich versteckt hält, und die Schaffung einer größeren Pufferzone an der Ostgrenze?
Neve Gordon: Ich befürchte ein Szenario der Zerstörung im Süden nach dem Ende des Waffenstillstands. Israel hat den Palästinensern befohlen, sich in den Süden zu begeben und bezeichnet diesen als sichere Zone, obwohl 30 Prozent des Beschusses dort stattgefunden hat. Mehr als eine Million Palästinenser sind bereits dorthin vertrieben worden.
Das erinnert mich an den Bürgerkrieg in Sri Lanka in den Jahren 2008 und 2009: Die Regierung forderte die Zivilbevölkerung auf, sich in drei sichere Zonen zu begeben. 330.000 Zivilisten zogen dorthin, und mit ihnen zogen auch die tamilischen Tiger ein. Daraufhin erklärte die Regierung, dass die Menschen in diesen Schutzzonen menschliche Schutzschilde seien, und bombardierte sie, wobei 40.000 Zivilisten getötet wurden.
Das mögliche Szenario in Gaza ist folgendes: Die Hamas nutzt den Waffenstillstand, um alle Truppen in den Süden zu verlegen, der dann zum eigentlichen Schlachtfeld, zum Feld des Mordens wird. Hinzu kommt ein weiteres Element: Der Süden ist so überfüllt und es mangelt an Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Toiletten, dass die Haupttodesursache Krankheiten sein werden, die zu Zehntausenden, wenn nicht Hunderttausenden von Toten führen könnten.
Frage: Der 7. Oktober scheint ein historischer Wendepunkt in der israelisch-palästinensischen Frage zu sein. Was denken Sie darüber?
Neve Gordon: Es ist ein historischer Moment, der zu Veränderungen führen wird. Im Moment hat Israel sein Paradigma nicht geändert, sondern es nur verschärft. Eine Eskalation der massiven Gewalt, die zu einem militaristischen Nullsummenspiel führt: entweder wir oder sie. Das Gleiche gilt für die palästinensische Seite. Diese Position muss durchbrochen, überwunden werden.
übernommen von il manifesto, 23.11.2023
https://ilmanifesto.it/neve-gordon-laccordo-non-sara-esteso-lultradestra-lo-impedira
eigene Übersetzung
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die redaktionelle Haltung von kommunisten.de wider.
Anmerkung von kommunisten.de: Was bedeutet "Sieg" aus israelischer Sicht.
"Die meisten Israelis glauben, dass die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung notwendig - und gerechtfertigt - ist, um den Sieg in Gaza zu erringen", schreibt Neve Gordon in dem bei Al Jazeera am 10. November erschienenen Artikel "Why is Israel bombing Gaza hospitals, ambulances? It’s all about ‘winning’". Er analysiert dann die unterschiedlichen Interpretationen des "Sieges" aus israelischer Sicht.
"In ganz Israel überragen riesige Plakatwände die zentralen Autobahnen, während große Plakate vor Schulen, Supermärkten und Regierungsgebäuden angebracht wurden. Sie alle tragen einen neuen Slogan: «Gemeinsam werden wir gewinnen»", schreibt Neve Gordon in diesem Artikel. Und weiter: "Der Slogan ist kurz und prägnant (auf Hebräisch besteht er aus zwei Wörtern, "beyahad nenatzeach") und wurde von großen Teilen der jüdischen Bevölkerung Israels angenommen. Ein Teil seiner Anziehungskraft ist wahrscheinlich auf seine Zweideutigkeit zurückzuführen, die es jedem Betrachter ermöglicht, das Wort "gewinnen" anders zu interpretieren."
Weiter führt er aus:
"Wenn aber die Vernichtung der Hamas das Endziel ist, dann bedeutet 'gewinnen' auch einen Regimewechsel im Gazastreifen sowie die Schaffung einer neuen Realität vor Ort, in der Israel nicht nur die Grenzen um den Gazastreifen kontrolliert, sondern auch das, was innerhalb dieser Grenzen geschieht.
Doch an diesem Punkt zerbricht der derzeit in Israel weit verbreitete Konsens über die Notwendigkeit der Vernichtung der Hamas, und der 'Sieg' wird je nach politischer Gruppierung, der man angehört, unterschiedlich interpretiert.
'Gewinnen' bedeutet einen umfassenden Vernichtungsfeldzug, der sich gegen das palästinensische Volk richtet und nicht nur gegen die Hamas.
Für die religiöse Rechte ist das abscheuliche Massaker der Hamas eine Gelegenheit, den Gazastreifen mit jüdischen Siedlern neu zu besiedeln. Die flächendeckende Bombardierung und die Vertreibung von mehr als einer Million Palästinenser ermöglicht es, den Streifen in verschiedene Teile zu zerschneiden und palästinenserfreie Zonen zu schaffen, in denen jüdische Siedler Land übernehmen und Siedlungen errichten können.
Die Umsiedlung des Gazastreifens ist jedoch Teil eines größeren Plans zur Judaisierung der gesamten Region - vom Fluss bis zum Meer. In diesem Moment - und unter dem Deckmantel der israelischen Gewalt im Gazastreifen - vertreiben Siedler, die dieser politischen Gruppe angehören, palästinensische Gemeinden aus den Hügeln östlich von Ramallah, dem Jordantal und den südlichen Hebron-Hügeln im Westjordanland. 'Gewinnen' heißt für sie, die Nakba ein für alle Mal zu vollenden, indem die einheimische Bevölkerung im gesamten biblischen Land Israel durch Juden ersetzt wird.
Für die politische Rechte Israels und viele in der politischen Mitte bedeutet 'gewinnen', Teile des nördlichen Gazastreifens und einen großen Bereich um die nördliche, östliche und südliche Grenze des Streifens in ein Niemandsland zu verwandeln.
Es bedeutet die dauerhafte Umsiedlung der Bevölkerung vom Norden in den Süden und von den Grenzen des Gazastreifens nach innen, wobei die Palästinenser in ein noch kleineres Gefängnis eingesperrt werden als das, in dem sie in den letzten 16 Jahren gelebt haben. Es beinhaltet die Schaffung einer Marionettenregierung, die für die kommunalen Aufgaben verantwortlich ist, nicht unähnlich der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, und es bedeutet, dass israelische Soldaten regelmäßig in den Gazastreifen eindringen werden, um 'den Rasen zu mähen', ähnlich wie es das Militär in Jenin tut.
Die verbleibende politische Mitte und viele jüdische israelische Liberale wissen nicht wirklich, was 'gewinnen' bedeutet, abgesehen von der Anwendung schrecklicher Gewalt, um 'die Hamas zu zerstören'. Gefangen in einem militaristischen und nun rachsüchtigen Paradigma, scheinen sie zu glauben, dass Israelis und Palästinenser in einem fatalistischen Nullsummenspiel gefangen sind, in dem nur die Anwendung von Gewalt gegen Palästinenser irgendwie die Sicherheit der Juden gewährleisten kann. Da sie sich nicht ganz sicher sind, was ein Sieg bedeutet, aber dennoch dieses Endergebnis anstreben, unterstützen auch sie die Gewalt.
Ob die überwiegende Mehrheit der jüdischen Israelis es nun zugibt oder nicht: 'Gewinnen' bedeutet einen umfassenden Vernichtungsfeldzug, der sich gegen das palästinensische Volk richtet und nicht nur gegen die Hamas.
Nur ein winziger Teil der jüdischen Gesellschaft Israels lehnt diese Formen des "Gewinnens" ab und fordert einen sofortigen Waffenstillstand. Für sie bedeutet Gewinnen einen vollständigen und totalen Paradigmenwechsel, der Israel in einen einzigen demokratischen Staat zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer verwandelt, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt zusammenleben können."
Auszug aus "Why is Israel bombing Gaza hospitals, ambulances? It’s all about ‘winning’"
Al Jazeera, 10.11.2023
https://www.aljazeera.com/opinions/2023/11/10/what-winning-the-war-means-for-israelis
eigene Übersetzung
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